Wachkoma: Auch nach Jahren kann man aufwachen

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Christian ist 22 Jahre alt, als er beim Frühstück mit seiner Freundin plötzlich vom Stuhl fällt. Schnappatmung, Herzstillstand. Die Freundin alarmiert den Rettungsdienst, nach 20 Minuten sagt der Notarzt: "Wir haben ihn wieder." Doch Christian ist nicht mehr der, der er vorher war. Die Diagnose kurz danach auf der Intensivstation lautet: Wachkoma.

Seitdem kämpft die Familie Schritt für Schritt um seine Rückkehr ins Leben und berichtet darüber im Internet. Christian ist einer von schätzungsweise 15.000 bis 30.000 Menschen, die in Deutschland im Wachkoma leben. Der spektakuläre Fall des Belgiers, der 23 Jahre lang in seinem Körper gefangen war, ohne sich bemerkbar machen zu können, hat ihnen Öffentlichkeit gebracht.

Schreckensstarr lasen viele die Meldungen über den Mann, der wie lebendig begraben schien und nur durch Zufall und erneute Untersuchungen "entdeckt" wurde. Der Neurologe Steven Laureys hatte den von Ärzten längst als "hoffnungslosen Fall" angesehenen Belgier erneut mit Hilfe einer Computertomographie untersucht - und Hirnfunktionen festgestellt. Laureys untersuchte 44 weitere Wachkoma-Patienten und stellte bei 18 von ihnen ebenfalls Regungen fest. Bei rund 40 Prozent der Wachkoma-Patienten seien noch Bewusstseinsreste nachweisbar, sagte Laureys. Eine Untersuchung von Tübinger Hirnforschern geht von 25 bis 30 Prozent Fehldiagnosen aus.

Für die Berliner Neurologin Andrea von Helden sind diese Zahlen keine Überraschung. "Koma-Patienten kommen von der Intensivstation normalerweise in die Neurologische Frührehabilitation. Dort wachen die meisten von ihnen in den ersten zwei bis sechs Wochen Schritt für Schritt auf. Aber wir wissen auch, dass es eine kleine Gruppe von Spätaufwachern gibt, die längst nicht immer entdeckt wird", sagt die Chefärztin des Zentrums für Schwerst-Schädel-Hirnverletzte am Vivantes Klinikum Spandau. Wochen, Monate, manchmal sogar viele Jahre später machen diese Patienten kleine Entwicklungsschritte. "Wachkoma ist kein stabiler Zustand, sondern ein Prozess", sagt von Helden.

Fatal für die Betroffenen ist dann jedoch, wenn sie längst in einem einfachen Pflegeheim liegen. Dort gibt es oft kein Fachpersonal, um die Veränderungen richtig zu deuten. "Es gibt etwa epileptische Anfälle, die ganz schwer zu erkennen sind. Oder es entwickelt sich langsam ein Hydrocephalus (Wasserkopf) im Gehirn", berichtet die Ärztin. Beides hindere Patienten daran, aufzuwachen. "Auch durch ruhigstellende Medikamente werden diese Funken schon im Ansatz ausgetreten", ergänzt sie. "Die fachärztliche Betreuung nach der Frühreha muss viel besser werden", fordert die Medizinerin. "Mein Wunsch: Einmal im Jahr mit einem Therapeutenteam all die Patienten zu besuchen, die nach Hause oder ins Pflegeheim gekommen sind, um durch Tests Fortschritte aufzuspüren."

Die besondere Herausforderung dabei: Die Betroffenen sind nicht immer gleichmäßig wach, ihre Bewusstseinszustände schwanken stark. Manchmal sind es vielleicht nur Minuten, in denen ein Hauch von Wiedererkennen aufflackert. Das weiß man mittlerweile auch aus den Berichten der sogenannten Locked-In-Patienten, die sich ähnlich wie der Belgier durch assistierte Computerprogramme äußern können. "Deshalb macht es auch keinen Sinn, jetzt generell alle Patienten mit bildgegebenen Verfahren oder Hirnstrommessungen zu untersuchen - so sehr ich die Forschungen Laureys auch begrüße", sagt Chefärztin von Helden. "Denn wie gehen wir dann mit denen um, die in diesem Moment gerade nicht 'wach' sind? Stempeln wir die dann erst recht ab?" Das, so die Medizinerin, wäre furchtbar. "Ich habe Patienten erlebt, die nach mehreren Jahren wieder kommunizieren konnten."

Kompetente ärztliche, therapeutische und pflegerische Behandlung und liebevolle Betreuung - ob zu Hause oder in einer qualifizierten Einrichtung - ist laut von Helden deshalb das Wichtigste. Denn wer will schon wieder aufwachen, wenn sein Bett abgeschoben in der Ecke steht? "Im Laufe der Jahre werde ich mir immer sicherer: Jeder, der es von der Intensivstation bis auf die Frühreha schafft, hat seinen Lebenswillen bereits unter Beweis gestellt", betont die Ärztin.

Christians Herzstillstand liegt mittlerweile zwölf Jahre zurück. Durch frühzeitige Reha, vielfältige Therapien und großes Engagement der Familie lebt er jetzt zu Hause in seiner vertrauten Umgebung. Er nimmt wieder am Leben teil, freut sich über Besuche in der Eisdiele und im Zoo. "Wenn wir heute Christian lachen hören, wissen wir: Das ist ein harter Weg, aber für ihn der richtige", schreibt Birgit Kahr auf ihrer Website.

INFO: www.christian-ein-leben-im-wachkoma.de; www.schaedel-hirn-patienten.de

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