Erste gehörlose Abgeordnete

Zuhören ist wichtiger als Hören

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Helene Jarmer zog vor einer Woche als erste gehörlose Politikerin ins Parlament ein.

„In anderen Ländern gehen die Menschen viel offener mit gehörlosen Personen um.“, Helene Jarmer über ihr Ziel, Österreich „barrierenfreier“ zu gestalten. Bild: (c) APADass es die österreichische Politik mit einer positiven Meldung in die Weltpresse schafft, ist selten. Helene Jarmer ist es gelungen! Als erste gehörlose Abgeordnete im Parlament sorgte die Grüne-Politikerin für internationale Schlagzeilen. In der Gebärdensprache hielt die 37-Jährige (sie ist glücklich verheiratet, hat keine Kinder) ihre erste Rede, die – wie sämtliche Interviews – von einer Dolmetscherin übersetzt wurde.

Mit MADONNA sprach die Pädagogin, die sich seit Jahren für gehörlose Menschen engagiert, über die Reaktionen auf ihre neue Aufgabe, die Menschen, die ihr Mut machen und den tragischen Unfall, der ihr Leben bestimmte.

Frau Jarmer, vor einer Woche hielten Sie Ihre erste Rede als Abgeordnete im Parlament. Wie nervös waren Sie?

Helene Jarmer: Bis einen Tag davor habe ich sehr gut geschlafen – aber am Morgen des 10. Juli war ich schon ziemlich nervös. Es gab ja so viele Dinge zu tun: die Angelobung und so viele Interviews...

"Die Worte meines Vaters waren immer: Gib nie auf!" Bild: (c) APAÜber Sie wurde sogar in der Süddeutschen Zeitung berichtet – macht Sie so etwas stolz?
Helene Jarmer: Ich würde eher sagen: es freut mich!

Waren Sie mit den Reaktionen der Kollegen im Parlament zufrieden?
Helene Jarmer:
Ich war sehr überrascht, wie positiv die Menschen reagiert haben, wie sie auf mich zukamen und wie herzlich ich begrüßt wurde – auch von den anderen Parteien. Man könnte fast sagen: was da passiert ist, war eine Form hautnaher Sensibilisierung für das Thema Gehörlosigkeit. Das war sehr schön für mich.

Sie treten unglaublich selbstbewusst auf – wer oder was hat Sie so stark gemacht?
Helene Jarmer:
Ganz klar: meine Familie. Meine Eltern, mein Mann, die Familie meines Mannes und meine Freunde. Ich habe viele Lebensbegleiter um mich, die mich fördern, die mir immer wieder Mut machen und sagen: Du schaffst das! Ganz besonders gut kennen mich natürlich meine Eltern, die mich gelehrt haben, an mich zu glauben. Die Worte meines Vaters waren immer schon: ‚Gib nie auf!‘.

Ihre Eltern sind gehörlos – Sie haben durch einen Unfall im Alter von zwei Jahren Ihr Gehör verloren. War das genetisch bedingt oder tatsächlich Schicksal beziehungsweise Zufall?
Helene Jarmer:
Bleiben wir bei dem Wort Zufall. Einige Freunde haben gemeint, dass so etwas normal nur im Film passiert. Tatsächlich war es so, dass ich als kleines Kind auf Geräusche reagiert habe – bis an jenem Tag, an dem der Unfall geschah.

Am 10. Juli wurde Helene Jarmer als Nachfolgerin von Ulrike Lunacek als erste gehörlose Abgeordnete angelobt. Ihre Ansprache hielt sie in Gebärdensprache, die von einer Dolmetscherin übersetzt wurde. Bild: (c) APAWas ist damals passiert?
Helene Jarmer:
Meine Mutter ist mit meinem Kinderwagen auf dem Gehsteig unterwegs gewesen. Ein Lastwagen fuhr bei Rot über die Kreuzung, rammte einen PKW, der gegen den Kinderwagen krachte, der sich in der Folge mehrmals überschlug. Dadurch wurde mein Kopf zwischen den Stangen des Kinderwagens hin und her geschleudert. Meine Ohren haben danach stark geblutet. Bei den nachfolgenden Untersuchungen habe ich auf Geräusche nicht mehr reagiert. Meinen Eltern war natürlich relativ schnell klar, was das nun bedeutet.

Haben Ihre Eltern und später auch Sie jemals mit Ihrem Schicksal gehadert?
Helene Jarmer:
Nein. Natürlich war es ein großer Schock – aber meine Eltern wussten immer, wie sie mit Gehörlosigkeit umzugehen haben.

Glauben Sie an Bestimmung?
Helene Jarmer:
Ab und zu.

Wie schwer hat man es in Österreich mit einer Behinderung?
Helene Jarmer:
Also im Vergleich zu vor 30 Jahren ist es viel besser geworden. Das Leben hier ist gut – aber: es könnte noch besser sein. Ich meine damit das Bewusstsein in der Gesellschaft. In anderen Ländern – ich reise sehr viel – geht man viel offener mit einer gehörlosen Person um. In Österreich sind die Menschen meist sehr unsicher und gehemmt.

Viele haben wohl auch Angst, weil Sie die Gebärdensprache nicht beherrschen.
Helene Jarmer:
Natürlich, aber ich verlange doch nicht, dass alle Menschen Gebärdensprache können. Wichtiger ist das Entgegenkommen, sei es mit Gesten oder indem man das vielleicht auch aufschreibt, was man sagen möchte.

Wo sehen Sie sich in zwanzig Jahren?
Helene Jarmer:
Ich möchte zurückschauen und sagen können, dass meine Arbeit Früchte getragen hat. Nicht nur für Gehörlose, sondern generell für behinderte Menschen.

Kann man nur als Betroffener gute Politik für behinderte Menschen machen?
Helene Jarmer:
Es ist nicht entscheidend, ob der Politiker, die Politikerin selbst betroffen ist – wichtiger ist, dass Betroffene in die Arbeit einbezogen werden! Als PolitikerIn muss man – unter Anführungszeichen – „zuhören“, was die Menschen zu sagen haben, um zu wissen, was sie tatsächlich brauchen.
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