Eine Anthropologin deckt auf

Selbstausbeutung in der Mode-Branche

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In intensiven Recherchen deckte Anthropologin Giulia Mensitieri erschütternde Fakten über die glitzernde Modewelt auf. Wie die Branche von den Träumen ihrer Mitarbeiter profitiert. 

Das Outfit von Victoria Beckham, die Schuhe von Chanel, die Tasche von Prada – im Portemonnaie hingegen nada. Als die Anthropologin Giulia Mensitieri beim Ausgehen mitbekam, wie eine reich gekleidete Fotostylistin ihre Begleitung um Kleingeld für ein Bier anpumpen musste, beschloss sie, tiefer in die kontrastreichen Strukturen der Modewelt einzutauchen. Später erfuhr sie von der Stylistin, dass diese erste Klasse für ihre Aufträge um die Welt jetten würde, sich zu Hause aber keine eigene Wohnung leisten könne, sondern hinter einem Raumteiler in der Küche ihrer WG schlafen müsse. Ihre – etwas abgewandelte – Doktorarbeit zu dem Thema sorgte in Frankreich vor zwei Jahren für einen Aufschrei, seit Kurzem ist Das schönste Gewerbe der Welt auch auf Deutsch erhältlich. Mensitieris Erkenntnisse zeichnen dabei ein gnadenloses Ausbeutungssystem, in dem die meisten unter prekären Bedingungen arbeiten würden. „Wir Anthropologen forschen ja, indem wir etwas machen, das wir ,teilnehmende Beobachtung‘ nennen. Ich habe Mia (Anm.: die Stylistin, alle Namen im Buch wurden zum Schutz der Personen geändert) zur Arbeit begleitet und bin immer tiefer in die Szene eingetaucht“, erklärte sie dem Spiegel in einem Interview ihre Methodik. Sie führt Gespräche mit Stylisten, Fotografen und Models und nahm sogar selbst ein unbezahltes Praktikum bei ­einem Designer an. Die Erfahrungen sind ernüchternd. Mia zum Beispiel wurde oft anstelle von Geld mit Markengutscheinen entlohnt, ein befreundetes Model stottert seit Jahren ihre Schulden bei einer Agentur ab, die ihr monetäre Leistungen intransparent vorgestreckt hatte, und in Verkäufer Gilberts Shopstandort wurden Millionenumsätze gemacht, während sein Dienstvertrag Monat für Monat neu befristet wurde. Eine zentrale Frage von Mensitieris Forschung war, warum sich so viele engagierte und kreative Menschen überhaupt auf solche Beschäftigungsformen einließen.

Das große Warum?
Die Antwort liegt zumeist im vermeintlichen Prestige. Die Beschäftigten waren versessen darauf, Teil der mondänen Glitzerwelt zu sein, und sahen sich vorrangig mit dem „sozialen und symbolischen Kapital der Zugehörigkeit“ entlohnt. „Viele meinten auch, man beschwert sich nicht über die prekäre Situation, weil sie auf eine Art als Privileg gilt“, so Mensitieri gegenüber dem Spiegel. Es gebe auch eine „Rhetorik vom ‚Glück, dabei zu sein‘“, die sie darin bestärke, auch in schwierigen Momenten durchzuhalten. „Diese Leute sind arm, aber sie verkörpern den Traum der anderen. Ich habe versucht, das in dem Begriff einer ,Elite des Begehrens‘ zusammenzufassen.“ In Mensitieris Buch fallen alle berühmten Namen wie Chanel, Dior oder Gucci, doch sie werden keinen konkreten Vorwürfen zugeordnet. Doch ein berühmter Protagonist kam trotzdem in die Situation, die Probleme des Buches zu kommentieren. Als Jean Paul Gaultier von einem Journalisten direkt auf die Pro­blematiken angesprochen wurde, stellte er alles in Abrede. Bei ihm wäre es keinesfalls so, er und sein Team seien „wie eine Familie“. Mensitieri musste darüber lachen. „In so einem mächtigen Unternehmen ist man keine Familie. Und genau diese Emotionalisierung der Beziehungen ist ja gerade das Problem. Sie macht es sehr viel schwieriger, für die eigenen Rechte einzustehen“, sagte sie im Spiegel-Interview.

Glamour Labour
Alles in allem sei die Modebranche, die auf einer solchen Kultur aufbaue, keinesfalls ein glamouröser Einzelfall. Laut der Anthropologin seien es tendenziell alle kreativen, kulturellen oder intellektuellen Felder im weiteren Sinne, in der kapitalistische Ideologien ihre Wurzeln schlagen würden. „Der zeitgenössische Kapitalismus bringt neue Formen der Ausbeutung hervor, die wir oft nicht richtig erkennen. Und dazu gehört zum Beispiel, wenn Menschen für ihre Arbeit nur in Hoffnung und Sichtbarkeit entlohnt werden“, resümiert sie die Systematik des „Glamour Labour“. Im Kontrast dazu seien diese Branchen millionen- oder milliardenschwer – Bernard Arnault, der Chef von LVMH, dem Konzern, zu dem Louis Vuitton, Dior, Fendi und andere Marken gehören, wechselt sich mit Jeff Bezos regelmäßig in den Reichen-Rankings ab. Das sei nur auf Kosten der talentierten und engagierten Masse möglich, wie Giulia Mensitieri in ihrem spannenden Bericht über die dunkle Seite der Mode nüchtern darlegt. 

Matthes & Seitz
© Matthes & Seitz

„Das schönste Gewerbe der Welt“ ist erschienen bei Matthes & Seitz, erhältlich um 28,80 Euro 
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