Mythos Mitte - Wie sich Berlin verändert hat

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Wenn sich Berliner an die wilden Zeiten nach dem Mauerfall erinnern, klingt das manchmal wie "Opa-erzählt-vom-Krieg". Wohnungen im Osten hatten Kohleöfen, kein Telefon und waren spottbillig. Die Szenegänger kletterten durch Kellerfenster in illegale Bars, um in schummerigen Ruinen zu Technobässen ihr Flaschenbier zu trinken. Das Regierungsviertel war noch nicht gebaut, die Museumsinsel verfiel.

Der Palast der Republik stand noch. Nirgendwo hat sich die Stadt so sehr verändert wie in Berlin-Mitte. Luxus-Wohnungen, die sich "Townhouses" nennen, und die "Flagship-Stores", die Prestige-Läden der großen Marken, sind ein Phänomen der vergangenen Jahre. Dazu kamen Hotels und Hostels für Rucksackreisende: Das Trabi-Knattern der Wendezeit ist 20 Jahre später dem Rattern der Rollkoffer gewichen. Der Gendarmenmarkt ist piekfein, die Auguststraße eine Galerien-Meile. Im 1997 eröffneten Hotel Adlon am Brandenburger Tor schläft die Queen, wenn sie in Berlin ist.

Impressionen vom Hackeschen Markt: Touristen drängeln vor einem japanischen Designkaufhaus. In einem Jeansgeschäft darf sich ein deutscher Jungschauspieler gratis etwas aussuchen. Am Rosenthaler Platz wird eine Brachfläche erschlossen: "Freuen Sie sich auf originelles Design in 145 Zimmern", wirbt ein Hotel auf einer Tafel. Ein paar Schritte weiter, in der Linienstraße, zeugt ein Banner vom Geist der Hausbesetzerszene: "Wir sind nicht käuflich", steht auf der maroden Fassade.

Der Tourismus boomt, die Mieten steigen. Glücklich ist, wer noch einen alten Mietvertrag hat. Manche Designer sind von der Neuen Schönhauser Straße in die Seitenstraßen ausgewichen. Carl Tillessen (42) zog mit seinem Modelabel "Firma" in die Mulackstraße, wo weniger Leute kommen, die dafür mehr kaufen. "Es ist viel von der Mischung verloren gegangen", hat Tillessen im Viertel beobachtet, das er aber nach wie vor mag. "Bevor das Raue in Berlin vom Aussterben bedroht ist, haben wir noch ein bisschen Zeit."

Einer der Veteranen des Nachtlebens ist Cookie (34), den niemand bei seinem richtigen Namen - Heinz Gindullis - nennt. Sein Club, neben dem Berghain und dem Weekend einer der bekanntesten der Stadt, feiert gerade den 15. Geburtstag. "Berlin-Mitte ist internationaler geworden", sagt Cookie. Illegale Clubs, deren Adressen Geheimtipps sind, gibt es immer noch, sagt er. "Da rockt es." Von einer Entwicklung hin zum Kommerz wie Soho in New York oder London sieht er Berlin aber noch weit entfernt.

"Das hat schon was von einem Dorf"

Noch sind nicht alle Ecken in Mitte fein und edel. "Clärchens Ballhaus" hat eine Patina, die Touristen wie Berlinern gefällt. Die zugige Torstraße, wo Wladimir Kaminer in den 90er Jahren seine "Russendisko" gründete, gilt (noch) als cool. Ansgar Oberholz zieht mit seinem Café "St. Oberholz" nach wie vor die "Digitale Boheme" an, die Kreativen am Laptop. "Das Publikum ist auf jeden Fall internationaler geworden", hat Oberholz (37) in den letzten drei Jahren beobachtet. "Mir gefällt das." Das "St. Oberholz" hat aufgestockt und bietet jetzt über dem Café Ferienwohnungen an. Das passt zur Entwicklung des Viertels. Gegenüber liegt "The Circus", ein Hotel, das im Juli in der "New York Times" erwähnt war.

Es gibt auch Kreative, die dem Viertel treugeblieben sind. Jochen Sandig (41) hat in den wilden Jahren von Mitte das Künstlerhaus "Tacheles" mitgeprägt, in den 90er Jahren gründete er die Off-Bühne in den Sophiensälen. Heute ist Sandig einer der Leiter des "Radialsystems". Das Kunst- und Kulturzentrums liegt zwar am Friedrichshainer Spreeufer. Aber Sandig lebt mit seiner Frau, der Choreografin Sasha Waltz, noch immer nahe der Oranienburger Straße. "Was ich mag an Mitte ist die hohe Konzentration an Kultureinrichtungen", sagt Sandig mit Blick auf die imposante Museumsinsel. Manchmal ist es im Zentrum der Berliner Republik auch heimelig. "Das hat schon was von einem Dorf."

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