Einsame Hirtenpfade und der Wanderzirkus des GR 20

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Kurz vor dem ersten Pass fallen dicke Tropfen auf die verschwitzten Gesichter. Nach Stunden des Wanderns genießen wir die Erfrischung, keiner greift zum Regencape. Schließlich ist es Sommer, und wir sind auf Korsika. Doch Bergführer Olivier mahnt zur Eile. Kurz darauf wissen wir warum: Ein heftiger Guss erwischt uns, erbsengroße Eiskügelchen prasseln herab.

Wie eine Prozession buckliger Mönche ziehen wir weiter, die Rucksäcke unter flatternden Umhängen verborgen. Im Hochgebirge Korsikas sind Wanderer selbst im Hochsommer nie vor solchen Überraschungen sicher. Die bergige Insel ist ein Paradies für Wanderer. Hier kann man durch duftende Kiefernwälder streifen, alpine Gipfel erklettern und dazwischen auf das Mittelmeer hinausblicken. Bekannt ist vor allem der Grande Randonnée 20, der spektakulärste und anspruchsvollste der französischen Fernwanderwege. Daneben gibt es wunderschöne alte Hirtenpfade und Höhenwege entlang der Küste. Olivier will uns beides zeigen.

   Es ist früh in der Saison, auf den ersten Etappen des GR 20 liegt noch zu viel Schnee. Deshalb stoßen wir auf Umwegen auf den legendären Wanderweg, dessen Verlauf über 180 Kilometer rot-weiße Streifen und Steinmännchen anzeigen. Tagelang hatten wir auf den alten Hirtenpfaden kaum einen anderen Wanderer getroffen, nun kämpfen wir mit Gegenverkehr, Blockierern und Überholern. "Das ist ja wie auf dem Pariser Autobahnring", stöhnt eine Frau aus der Hauptstadt.

   Am Morgen laufen wir durch einen Kiefernwald, in dem die Sonnenflecken tanzen. Je höher wir kommen, desto krüppeliger werden die Nadelbäume, bis sie von Wacholderbüschen abgelöst werden, die an den Waden kitzeln. Über allem liegt der Duft der Macchia, des korsischen Buschwaldes: Es duftet würzig nach Thymian, Kiefernharz und Lavendel, nach großen Ferien und Abenteuer. Kurz vor dem Col des Maures erreichen wir die ersten Schneefelder und gönnen uns kreischend eine sommerliche Schneeballschlacht.

   Obwohl wir nur wenige Kilometer zurücklegen, ändert sich die Landschaft jeden Tag. Vom Col de Vergio steigen wir einen Pass empor, auf dem die Buchen vom Wind so mitgenommen sind, dass sie nach einer kühnen Biegung fast parallel zum Boden wachsen.

   In der Berghütte Vaccaghia probieren wir den handgemachten Ziegenkäse. "Er riecht wie eure Socken, aber er schmeckt wesentlich besser", sagt die Hüttenwirtin. Dass korsischer Käse streng riecht, weiß jeder Asterix-Leser. Während wir erschöpft um den Holztisch sitzen und Kastanienbier trinken, melkt der Hirte seine Ziegen.

   Am nächsten Morgen brechen wir auf zu einer langen und heißen Etappe. Wir folgen dem Bergbach Tavignano hinab bis zur früheren Hauptstadt Corte. Er bahnt sich seinen Weg durch scharf geschnittene Täler, stürzt sprudelnd Felswände hinunter und sprüht feuchten Nebel in allen Farben des Regenbogens. Immer wieder sammelt sich das klare Wasser in kleinen Teichen, wie geschaffen für erhitzte und erschöpfte Wanderer. Es ist mittags, Olivier schlägt eine Badepause vor. Das Wasser ist eiskalt, doch schließlich überwinden wir uns. Beim Schwimmen bleibt einem der Atem weg. Umso schöner ist es, sich danach auf warmen Felsen von der Sonne trocknen zu lassen.

   Wer auf den schwierigen Mittelteil des GR 20 verzichten will, kann von Corte aus ein Stück mit der Eisenbahn fahren. Die kleine Bergbahn schlängelt sich durch zahlreiche Tunnel und transportiert heute vor allem Touristen über die Insel. In Vizzavona beginnt der einfachere Südteil des Fernwanderwegs, für den man etwa eine Woche braucht.

   Allmählich haben wir unseren Rhythmus gefunden - eine Energiepause mit Trockenfrüchten und korsischen Keksen am Vormittag, Picknick und Siesta im Schatten zur Mittagszeit, großes Nudelessen auf der Hütte am Abend. Unter den GR 20-Wanderern entsteht schnell ein Gemeinschaftsgefühl: Man kennt sich, man überholt sich, man trifft sich beim Picknicken oder spätestens an der Hütte wieder.

   Spätestens an der Hütte von Usciolu wird uns klar, dass der GR 20 Gefahr läuft, zum Opfer seines Erfolgs zu werden. Ein doppelstöckiges Matratzenlager bietet hier Platz für etwa 30 Wanderer. Heute schlagen manchmal mehr als 100 Wanderer ihre Zelte rund um die Hütte auf.

Unsere Tour neigt sich dem Ende zu. Hinter den Bavella-Bergen, die riesigen Türmen aus Bauklotzen ähneln, geht es in Serpentinen wieder in die Zivilisation hinab. Wir atmen noch einmal tief den Duft der sonnenwarmen Kieferwälder ein. Ein Mobiltelefon klingelt, es gibt wieder Netz. Gefehlt hat es uns nicht.

 

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