Exklusiver Talk

'Die Magersucht meiner Zwillinge'

04.02.2011

Caroline Wendts ­Zwillinge erkrankten an Magersucht. Eine starke Mutter erzählt offen.

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© Getty Images, Verlag
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Doppeltes Schicksal
Ohnmacht, Angst, Trauer und Wut,… sind nur einige Gefühle, mit denen Mütter eines magersüchtigen Kindes konfrontiert sind. Caroline Wendt traf es doppelt schlimm. Ihre Zwillinge, Marie und Anna (heute 18), erkrankten im Alter von 14 Jahren an der tückischen Sucht, dünner, schöner oder auch einfach nur anders zu sein. „Bei Marie fing alles an. Dann folgte ihr Anna in die Krankheit“, erzählt Wendt nun in ihrem Buch „Ich kann nicht anders, Mama“, in dem sie offen über ihren Kampf für ihre magersüchtigen Töchter schreibt. Das Interview.

Was war für Sie der ausschlaggebende Moment, Ihr Schicksal öffentlich zu machen?
Caroline Wendt:
In der Zeit der akuten Erkrankung, 2007, habe ich Tagebuch geführt, um mich selbst zu entlasten. Das kann ich nur jedem raten, der sich in einer Krise befindet. Irgendwann einmal habe ich das Tagebuch ausgedruckt und die Mädchen haben gesagt: „Das ist so toll, Mama! Du solltest das veröffentlichen.“

Sind beim Schreiben nicht viele schreckliche Momente in Ihnen wieder hochgekommen?
Wendt:
Und wie! Bis heute muss ich heulen, wenn ich daran denke. Ich habe meine verhungernden Kinder am Küchentisch sitzen sehen und konnte nichts dagegen tun. Das Schreiben war ein Stück weit Traumaverarbeitung für mich.

Wann wurde Ihnen bewusst, dass – zunächst – Marie magersüchtig ist, oder war das ein schleichender Prozess, den man gar nicht wahrhaben will?
Wendt:
Beides. Ich hatte schon relativ früh so ein inneres Wissen. Ich habe mich gefragt, ob das daran lag, dass ich meine Tochter so gut kenne, oder daran, dass ich die Krankheit so gut kenne. Beides stimmt, denn die Krankheit ist in meiner Familie schon aufgetreten. Meine Schwester und meine Großmutter hatten das und ich hatte auch so eine Phase. Das Problem bei Magersucht ist, dass die Betroffenen das sehr lange leugnen. Dadurch lässt man sich dann ein bisschen beschwichtigen. Andererseits geht das mit dem Gewichtsverlust so schnell, dass man rasch handeln muss.

Viele geben dem Schönheitsideal die Schuld an Magersucht…
Wendt:
Es ist, glaube ich, erwiesen, dass der Schlankheitswahn der Modebranche nicht an Magersucht schuld ist. Grundsätzlich ist es eine multifaktorielle Erkrankung. Es ist wichtig, nach den psychischen Hintergründen zu fragen. Bei Marie war es eine Identitätskrise. „Wer bin ich? Wer will ich sein? Ich will anders sein als meine Schwester, dünner sein.“ Bei Marie war es so, dass sie immer einen Tick „dicker“ war als ihre Schwester. Irgendwie kam sie auf die Idee – und da war das Schlankheitsideal sicher nicht hilfreich – schlanker sein zu wollen als ihre Schwester, um sich von ihr zu unterscheiden. Damit war sie in der Falle. Wenn du auch noch die genetische Disposition dazu hast, bist du ganz schnell in einem Sog drinnen, den diese Krankheit entwickelt, und es ist ganz schwer, da wieder rauszukommen.

Kurz darauf wurde auch Anna magersüchtig. Haben Sie damit gerechnet?
Wendt:
Die beiden sind eineiige Zwillinge. Die Wahrscheinlichkeit, dass – wenn – beide Zwillinge an Magersucht erkranken, liegt bei über 80 Prozent. Sie haben sich gegenseitig belauert, was die jeweils andere isst, und darauf geachtet, keinesfalls mehr zu sich zunehmen. Sie wollten einander aber auch nicht loslassen und sind gemeinsam in dieser Krankheit festgesteckt. Die Zwillings-Situation erschwerte das Ganze enorm.

Gab es Tiefpunkte, an denen Sie dachten: Ich kann nicht mehr?
Wendt:
Ja, des Öfteren! Ich wollte abhauen, meinen Sohn nehmen und alle verlassen. Ich hatte das Gefühl, mich selbst retten zu müssen, aber das macht man dann natürlich nicht. Deshalb war es ganz gut, dieses Buch zu schreiben, um die Krankheit und die Familie besser zu verstehen.

Wie hat das Umfeld auf Ihre extrem dünnen Töchter reagiert?
Wendt:
Kurz vor ihrer Einweisung wog Marie etwa 42 Kilo und wurde am Schulhof bewundert gefragt, wie sie es geschafft habe, so toll abzunehmen. Das war natürlich völlig kontraproduktiv. Ich habe es allgemein vermisst, dass keiner das Problem angesprochen hat. Keiner hat gefragt, ob irgendetwas nicht stimmt oder ob es ihnen nicht gut geht.

Was haben Sie im Zuge dieses Kampfes über Ihre Mutter-Töchter-Beziehung gelernt?
Wendt:
Vieles. Ich musste mich etwa damit auseinandersetzen, ob ich eine der beiden Mädchen je bevorzugt habe. Und ich habe erkannt, dass mir Marie nie so nahe war wie Anna, weil sie einfach anders ist. Das zu akzeptieren war schwer, aber wichtig.

Marie und Anna geht es heute wieder gut – welche Rolle spielt Essen heute in Ihrer Familie?
Wendt:
Es ist fast schon wieder normal. Fast (lacht). Die Angst vor einem Rückfall bleibt immer – aber in diesem Jahr werden die beiden das Elternhaus verlassen, um in zwei verschiedenen Städten zu leben. Dann fällt der Effekt des permanenten gegenseitigen Aneinander-Messens weg und das wird ihnen gut tun.

Welchen Rat können Sie geben?
Wendt:
Man muss sich helfen lassen! In einem Ratgeber für Betroffene habe ich einen wahren Satz gelesen: „You can do it, but you can’t do it alone!“

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'Ich kann nicht anders, Mama – Eine Mutter kämpft um ihre magersüchtigen Töchter' von Caroline Wendt erscheint nächste Woche im Knaur-Verlag (um 9, 90 Euro). HIER können Sie das Buch bestellen!

 

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