Was brachten zehn Jahre Genomforschung?

Teilen

"Das menschliche Genom ist entziffert" - knapp zehn Jahre ist es her, dass diese Sensation verkündet wurde. Zwei heftige Konkurrenten berichteten im Weißen Haus Seite an Seite von ihrem Erfolg: Francis Collins, damals Chef des öffentlich geförderten Human-Genom-Projekts (HGP), und der US-Genetiker und Unternehmer Craig Venter.

Ihre Teams hatten eine grobe und noch lückenhafte Karte der drei Milliarden Bausteine des menschlichen Genoms geschaffen, beide Forschergrößen betonten den Nutzen für die Menschheit. Doch selbst die zukunftsfrohen Amerikaner waren misstrauisch: In einer CNN-Umfrage erklärten damals 41 Prozent, die Genforschung für unmoralisch zu halten.

Versprechen einer Revolution

"Das Versprechen einer Revolution für die Gesundheit des Menschen bleibt wahr", betont Francis Collins nun in einem in der Fachzeitschrift "Nature" (Bd. 464, S. 674) veröffentlichten Kommentar. "Diejenigen, die dramatische Ergebnisse über Nacht erwarteten, mögen enttäuscht sein, sollten sich aber bewusst machen, dass Genforschung der obersten Regel aller Technologien folgt: Wir überschätzen ausnahmslos den kurzfristigen Einfluss einer neuen Technologie und unterschätzen ihre Langzeiteffekte."

Der damalige US-Präsident Bill Clinton hatte bei der Kundgabe am 26. Juni 2000 von der "wichtigsten und wunderbarsten" Karte der Menschheit gesprochen. Er verglich sie mit der Karte der Forscher Meriwether Lewis und William Clark, die mit ihren Erkundungen die Besiedlung des Westens der USA ermöglichten. Die "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" druckte sechs Seiten mit Sequenzen des menschlichen Erbguts. Spaltenweise waren Buchstabenfolgen wie "GAGGAT GTGGAG AAATAG GAACAC" zu lesen - Kürzel für die vier Basen Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin, aus denen die DNA besteht.

Prognosen

Er habe damals Vorhersagen für das Jahr 2010 gemacht, erläutert Collins, mittlerweile Direktor des Nationalen Gesundheitsinstituts NIH. Da er nie eine Präsentation wegwerfe, habe er die Liste mit sechs Punkten darauf nun prüfen können. Für dutzende Gesundheitsfaktoren werde es Gentests zur Vorhersage geben, stehe da. Für viele davon werde es Möglichkeiten geben, das Krankheitsrisiko zu mindern. Zahlreiche Anbieter "genetischer Medizin" entstünden, Präimplantations-Genetik werde weit verbreitet - und höchst umstritten - sein. In den USA werde ein Verbot genetischer Diskriminierung erlassen, nahm Collins vor einem Jahrzehnt an. Und der Zugang zur Gen-Medizin werde ungerecht verteilt sein, vor allem in ärmeren Ländern. Weitgehend seien alle sechs Prognosen eingetroffen, meint Collins.

Neue Medikamente

Auf Basis der in den vergangenen zehn Jahren entzifferten Erbgutdaten seien neue Medikamente etwa gegen Krebs entstanden. "Es ist aber angemessen, zu sagen, dass das Human Genome Project die Gesundheitsversorgung der meisten Menschen bisher nicht direkt beeinflusst hat." Neue große Fortschritte seien zu erwarten, sobald in den nächsten drei bis fünf Jahren die Kosten für die Sequenzierung eines Genoms unter 1.000 Dollar (750 Euro) fielen, erläutert Collins. Schon jetzt gebe es massenhaft mögliche Ansatzpunkte für neue Therapien, die mit genetischen Analysen gefunden wurden. "In diesem Überfluss therapeutischer Möglichkeiten Prioritäten zu setzen, ist eine Herausforderung."

Es sei durchaus zu hinterfragen, ob die Masse neuer Krebsgenomdaten die Biologie der Erkrankung klären helfe - oder ihr Verständnis eher verkompliziere, gibt Todd Golub vom Broad-Institut in Cambridge (Massachusetts) in "Nature" (S. 679) zu bedenken. "Der Kampf um die Entschlüsselung der molekularen Basis von Krebs wird sicher im kommenden Jahrzehnt gewonnen werden, ohne die chemischen Werkzeuge aber, diese von genetischen Abweichungen verursachten zellulären Prozesse zu korrigieren, wird das ein wertloser Sieg sein."

Wichtige Ansätze

Craig Venter, Chef des gleichnamigen Instituts in La Jolla (Kalifornien), sieht in "Nature" (S. 676) weitere wichtige Ansätze für die künftige Forschung: Sinnvoll sei etwa, bei jedem Erbgut die genetischen Daten beider Erbgutsätze - von väterlicher und mütterlicher Seite - zu erfassen. Dies sei entscheidend, um Rückschlüsse auf Vererbung, Regulierungsmechanismen und Erkrankungsrisiko zu ziehen. Eine noch größere Herausforderung werde es sein, nicht nur das Erbgut von Menschen, sondern auch ihren Phänotyp, also die Ausprägung aller körperlichen Eigenschaften, zu erfassen. Dies sei nötig, um die komplexen Zusammenhänge zwischen purer DNA-Information und tatsächlichem Erscheinungsbild zu erkennen.

Auf Basis der Daten zehntausender Menschen ließe sich Venter zufolge ein Programm erstellen, das, mit den Angaben eines Patienten gefüttert, sowohl Diagnose als auch Prognose liefere. Dafür brauche es einen "Supercomputer", der tausendfach schneller sein müsse als die derzeit schnellsten Rechner. Wichtig für den medizinischen Fortschritt werde auch sein, die Genome der Millionen von Mikroorganismen zu entziffern, die den Menschen bevölkern - etwa der Darmbakterien. "Die Erbgut-Revolution hat gerade erst begonnen."

Kritische Stimmen

Kritisch sieht die Entwicklung dagegen Robert Weinberg vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Er plädiert in "Nature" (S. 678) dafür, die Prüfung einer zuvor aufgestellten Hypothese als einen wichtigen Ansatz medizinischer und biologischer Forschung beizubehalten. Die Großprojekte der Genomforschung verschlängen riesige Summen - für die althergebrachten Hypothese-Prüfungen seien in den vergangenen Jahren immer weniger Fördergelder übrig geblieben. "Der Langzeiteffekt wird sein, dass viele biologische Disziplinen nicht mehr in der Lage sind, die hellsten jungen Köpfe anzuziehen - und diese sind nun mal die eigentlichen Triebkräfte wissenschaftlichen Erfolgs. Ohne sie sind wir verloren."

Fehler im Artikel gefunden? Jetzt melden.