Historischer TV-Auftritt

Marina Owsjannikowa: Heldin der Wahrheit

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Ihr TV-Auftritt bewegte die Welt – jetzt muss die russische Redakteurin und zweifache Mutter vor den Folgen zittern.

Nicht mehr als fünf Sekunden haben ihr Leben verändert, für immer. Fünf Sekunden, die sie zur in der ganzen Welt gefeierten Heldin machten – ebenso wie zu Wladimir Putins „Staatsfeindin Nummer eins“, wie Marina Owsjannikowa sich auch selbst nennt. Seit ihrer Protestaktion im russischen Fernsehen „Perwy Kanal“ steht das Leben der 43-jährigen Journalistin kopf. Dass sie in der Sendung ihrer Kollegin ein selbst geschriebenes Schild mit den Worten „Kein Krieg! Beenden Sie den Krieg! Glauben Sie der Propaganda nicht. Hier werden Sie belogen. Russen gegen den Krieg“ in die Kamera hielt und zuvor auch auf Facebook ­öffentlich zum Protest gegen den Krieg in der Ukraine aufgerufen hat, könnte nun fatale Folgen für sie und ihre Familie haben.

Marina Owsjannikowa: Heldin der Wahrheit
© Screenshot
× Marina Owsjannikowa: Heldin der Wahrheit

Live im russichen TV rief Owsjannikowa zum Protest gegen den Krieg auf.

15 Jahre Gefängnis drohen

250 Euro Strafe, zu denen Owsjannikowa verurteilt wurde, nachdem sie unmittelbar nach ihrem Auftritt verhaftet worden war, sind wohl erst der Beginn eines langen Kampfes um ihre Freiheit. „Natürlich habe ich Angst, sogar große. Ich bin ja ein Mensch“, erklärte die Redakteurin kurz nach ihrer Freilassung nach zehnstündiger Einvernahme, ohne ihren eigenen Anwalt kontaktieren zu dürfen, in einem Interview mit dem deutschen Spiegel. Auch ihr Rechtsanwalt ist besorgt – sollte Owsjannikowa nach dem neuen umstrittenen russischen Gesetz wegen Diffamierung verurteilt werden, könnte die 43-Jährige für 15 Jahre ins Gefängnis müssen.

Unter dem Schutz der französischen Botschaft

Sich ins Ausland abzusetzen, ist dennoch keine Option für die mutige zweifache Mutter. Dabei hatte ihr der französische Präsident Emmanuel Macron persönlich konsularischen Schutz angeboten. „Wir leiten diplomatische Maßnahmen ein, damit sie unter den Schutz der französischen Botschaft gestellt wird“, erklärte er sofort. Frankreich verurteile jede Inhaftierung von Journalist:innen. Doch Marina Owsjannikowa bleibt standhaft: „Nein, ich will unser Land nicht verlassen. Wir wollen auf keinen Fall weg, nirgendwohin auswandern.“ Vielmehr wolle sie weiterhin die Menschen darüber aufklären, was sich tatsächlich – entgegen sämtlichen Berichten in den staatlich kontrollierten russischen Medien – in der Ukraine abspielt. Und: Marina ermutigt nun auch Kolleg:innen, Freund:innen und Landsleute dazu, öffentlich gegen die Ukraine-Invasion Stellung zu beziehen. „Die Zeiten sind sehr finster und sehr schwierig, und jeder, der eine staatsbürgerliche Haltung hat und der will, dass diese Haltung zur Kenntnis genommen wird, muss seiner Stimme Gehör verschaffen“, ist die Redakteurin, die bei „Perwy Kanal“ jahrelang für Auslandsnachrichten zuständig war, überzeugt. Dass in ihren Adern auch ukrainisches Blut fließt, emotionalisiert sie noch zusätzlich. „Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter ist Russin – und sie waren nie Feinde“, erzählt Marina. „Diese Kette an meinem Hals ist wie ein Symbol dafür, dass Russland den Bruderkrieg sofort stoppen muss und unsere Brudervölker sich noch versöhnen können.“

Viele Jahre selbst Teil der „Kreml-Propaganda“

Schamgefühle habe sie, wenn sie daran denkt, dass sie viele Jahre selbst in der „Kreml-Propaganda“ mitgearbeitet hat. „Wir haben dieses menschenfeindliche Regime einfach nur stillschweigend beobachtet. Jetzt hat sich die ganze Welt von uns abgewendet. Und noch zehn Generationen unserer Nachfahren werden sich von der Schande dieses Brudermord-Krieges nicht reinwaschen können.“ Doch trotz allen Heldentums und Applauses aus der ganzen Welt für ihre Aktion ist die attraktive Ehefrau des „Russia Today“-Regisseurs Igor Owsjannikow im Zwiespalt, was ihre politischen Proteste betrifft. Schließlich bringt sie damit ihre gesamte Familie in Gefahr. Vor allem ihr Sohn, der sich „ohnehin in einem schwierigen Alter befindet“, mache ihr schwere Vorwürfe. „Er hat mir vorgeworfen, dass ich das Leben von uns allen zerstört habe“, erzählt Marina im Spiegel-Gespräch. „Es ist psychisch für mich sehr schwierig, ich stehe zwischen den Fronten.“

Auch 77-jährige Jelena Ossipowa im Kampf gegen Putin

Und dennoch: Die „Heldin im Kampf gegen den Krieg“, wie sie allerorts genannt wird, kann nicht anders. Womit die Powerfrau übrigens nicht alleine dasteht. Auch viele andere Frauen in Russland lehnen sich gegen Wladimir Putins Regime, seine brutale Vorgehensweise und den von ihm initiierten Krieg auf. Die 77-jährige Jelena Ossipowa beispielsweise demonstriert immer wieder lautstark in ihrer Heimatstadt Sankt Petersburg, wo sie auch kürzlich verhaftet wurde. Die langjährige Friedensaktivistin hatte auf Plakaten Putin kritisiert.

Widerstand gibt nicht auf

Zwei Jahre Straflager hat Marija Aljochina (33) bereits hinter sich, – die „Pussy Riot“-Aktivistin engagiert sich seit über zehn Jahren gegen Putins Regime. Ebenso wie Russlands Oppositionelle Ljubow Sobol (34), die 32 Tage in Hungerstreik trat. Die Regierung listet sie seither als „Terroristin und Extremistin“. Erschütternd, dass so etwas 2022 möglich ist. Ermutigend, dass es dennoch Menschen gibt, die sich starkmachen – für andere und für eine bessere Welt.

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