Großes Ereignis

Literaturnobelpreis für Annie Ernaux

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Mit ihren Werken, in denen es oft um weibliche Identitätsfindung geht, berührt sie vor allem Leserinnen. Nun wird die 82-jährige Französin Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis geehrt. 

Seit mehr als vier Jahrzehnten blickt die französische Autorin Annie Ernaux in ihren Büchern nicht nur radikal auf ihre eigene Biografie, sondern reflektiert kompromisslos und nüchtern die Zeit und Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurde. International ist die 82-Jährige, die als eine der bedeutendsten und kritischsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur gilt, bekannt für ihre klare, saubere Sprache sowie ihren Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Dinge beschreibt.

Literaturnobelpreis-Gewinnerin 2022. Nun wurde die Schriftstellerin in Stockholm für ihr Werk gewürdigt. Als erst 17. Frau in der Geschichte, die den Literaturnobelpreis erhält, zeigte sie sich selbst überrascht: "Nein! Wirklich?", sollen ihre ersten Worte gegenüber dem schwedischen Nachrichtensender TT gewesen sein. "Ich war sehr erstaunt, als ich davon erfuhr. An dem Tag hatte schon die ganze Zeit über das Telefon geklingelt. Ich bin allerdings nicht hingegangen, da ich gearbeitet habe", so Ernaux. Den Erhalt des Literaturnobelpreises erachte sie als "große Verantwortung im Hinblick auf die Genauigkeit und Gerechtigkeit, die Welt zu bezeugen".

Bestseller-Autorin. Ernaux' Werke, in denen sie Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet und den gesellschaftlich-dynamischen Wandel und Zeitgeist wiedergibt, schaffen es regelmäßig auf deutsche Bestseller-Listen. Aus der weiblichen Sicht schreibt sie offen und schnörkellos über ihre Wurzeln, ihre persönlichen Qualen der Klassenerfahrung, über kollektive Fesseln, über Demütigung und Eifersucht. Eines ihrer jüngsten Werke mit autobiografischen Zügen trägt den Titel "Das Ereignis". Das Buch handelt von fast schon grausamen Versuchen der Autorin selbst, abzutreiben -und zwar in einer Zeit, in der Abtreibung noch als unmoralisch, kriminell und verpönt galt. Die berührende Geschichte wurde von der französischen Filmregisseurin Audrey Diwan verfilmt. Diwan erhielt dafür im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig.

Literaturnobelpreis für Annie Ernaux
© Getty Images
× Literaturnobelpreis für Annie Ernaux

Über 20 Bücher hat Annie Ernaux bereits geschrieben. Diese lesen sich wie eine Art Selbsterkundungsprojekt. Sie selbst versucht dabei, wie sie sagt, ihre persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Erkenntnisse ins kollektive Gedächtnis der Gesellschaft einzubetten. Für Ernaux ist das "Ich" ohne "Wir", also ohne die anderen bzw. ohne Geschichte und Gesellschaft nicht denkbar. Ausgehend von diesem Ansatzpunkt gehen die Erzählungen ihrer Bücher weit über ihre individuellen Erfahrungen hinaus. Sie verbindet persönlich Erlebtes mit kollektiven Erfahrungen, die wiederum das "Ich" und dessen persönliche Entfaltung durch Zwänge, Normen und Konventionen beschränken.

Positives Echo. Bereits als Ernaux im Jahr 2019 mit dem deutsch-französischen Prix de l'Académie de Berlin ausgezeichnet wurde, lobte die Jury ihr Werk als "hochmoderne, gewagte, meisterlich komponierte Literatur, in der es sich um Klassenkämpfe, Zumutungen kultureller Differenzen und die Emanzipation der Frauen handelt". Auch in diesem Jahr freuen sich zahlreiche Literaturexperten und -liebhaber der internationalen Szene über die und mit der Literaturnobelpreisgewinnerin. Frankreichs Ex-Kulturministerin und ebenfalls Autorin Aurélie Filippetti bezeichnete den Preis für Ernaux als "große Freude". In ihren Erzählungen zu dumpfer Gewalt, männlicher Dominanz, Scham und weiblicher Identitätsfindung "erkennen sich so viele Frauen auf der ganzen Welt wieder", twitterte sie kürzlich. In Deutschland wurde die Preisübergabe an Ernaux als "beglückende Wahl" und als "Festtag der Literatur" bezeichnet -sowohl in ästhetischer als auch politischer Hinsicht.
 

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