Die Angst, etwas zu versäumen

Wie äußert sich FOMO im Lockdown?

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Die panische Angst, etwas zu verpassen, sollte in Zeiten einer globalen Pandemie eigentlich nicht gegeben sein. Trotzdem sind wir hektisch. 

Fast ein Jahr hat uns die Corona-Pandemie schon im Griff. Wir balancieren auf dem Seil zwischen Lockdown Light und Lockdown Hard. Offen, geschlossen, teilweise offen und wieder alles zu. Wer soll sich da noch auskennen?  

Alles anderes, alles gleich: 

Die Wochen verschmelzen zu einem Konglomerat aus Zoom-Calls und Skype-Anrufen, aus virtuellem Bier-Trinken und E-Mail-Bergen. Aber auch die Freizeitgrenzen verschwimmen: Zwischen Bananenbrot und Sauerteig, Plank- und Yoga-Challenge meistern wir unseren Alltag. Wir haben den Überblick verloren. Jüngst wurde bekannt: Der Pyjama löst die Jogginghose ab. Die großen Modehäuser setzen jetzt auf Pyjamas, seidige, weiche edel aussehende und hochwertige Teile, mit denen man auch beim Zoom-Call erscheinen und zum Supermarkt gehen kann.
Kino zu, Theater zu, Bars und Restaurants sowieso. Kein neuer Club, der öffnet, noch nicht einmal ein alter Club. Kein Freibier, keine Hausparty und kein Kaffee-Tratsch. Wir können mit gutem Recht behaupten: Es passiert gar, gar nichts. 
 

Was bedeutet FOMO? 

Bier mit den Arbeitskollegen oder Cocktails mit den Unimädels? Homeparty oder Techno-Club? Madrid oder Mailand? Paris oder Peru? Und was wenn – die Alternative, die Party gegen die wir uns entschieden haben, doch cooler gewesen wäre?
Die Angst etwas zu verpassen, der sogenannte „Fear of Missing Out", kurz FOMO, ist ein generationsübergreifendes Phänomen. Niemand ist davon gefeit plötzlich von FOMO überfallen zu werden. Wir wollen kein „Entweder oder“ im Leben sondern lauter kleine Unds. Da und dort und immerzu: Ja! Wir wollen nichts verpassen, alles sehen und alles miterleben. 
 

Social Media ist Schuld 

Und dann kam Social Media… FOMO ist per se kein neues Phänomen, doch mit den Story-Funktionen diverser Social Media Apps, wo man gewissermaßen live vom Geschehen berichten kann, wurde FOMO alters- und gesellschaftsübergreifendJe mehr Zeit eine Person auf Social Media verbringt, desto wahrscheinlicher ist sie von FOMO betroffen – immerhin wird ihr ständig vor Augen geführt, was sie gerade alles nicht macht. 
Es braucht schon eine gewaltige Portion Contenance und Gelassenheit, um Dinge einfach so geschehen zu lassen. Die neue App einmal nicht zu installieren. Die Serie, über die jedermann spricht, einfach mal nicht zu schauen. Die Party sein zu lassen und früh ins Bett zu gehen. Theoretisch einfach. Praktisch gewissermaßen unmöglich. Nicht auszudenken: Da passiert etwas Cooles und man selbst war nicht dabei!
 

Erlebnis-Pause 

Einen Zeitraum, wo wirklich alles und alle vollkommen stillstehen, den hat es in der Weltgeschichte wohl noch nie gegeben. Verpassen dürfte in einer globalen Pandemie eigentlich nicht vorhanden sein, denn die Corona-Pandemie zwingt uns zur Erlebnislosigkeit: Partys, Menschengruppen, Hochzeiten, Kurztrips und Weltreisen– abgesagt, ausgesetzt, verschoben. Auf unbestimmte Zeit. Die Welt steht Kopf und inmitten dieses unsicheren Kopfstandes verschwindet plötzlich die „Pflicht zum Abenteuer“. 
 

Verkehrte Welt 

Es herrscht sozialer Winterschlaf. Die Straßen sind leer, die Bars verweist, die meisten Büros ebenso. Termine wurden in unzählige Online-Formen verlegt, E-Mails haben sich schlafartig verdreifacht. Den ganzen Tag das Haus nicht zu verlassen und morgens nur schnell zum Bäcker zu huschen, wurde plötzlich ungeheuer lobenswert. All diese Menschen, die hektisch schon am Donnerstagabend herumüberlegten und sich die Haare rauften, welche Party am Freitag nun denn angesagter, cooler und hipper wäre, könnten sich schlagartig entspannen. 
 

Digitale Inszenierung 

„Es passiert einfach gar nichts mehr“, bemerken Clubtiger und Partylöwen bedauernd. „Rein gar nichts mehr.“  Manche Menschen sind erlebnishungriger als andere, sie brauchen den ständigen Input von außen, das Gespräch und die Erlebnisse. Sie sind süchtig danach, gesehen zu werden. Und jetzt? Was geschieht jetzt, wo ein Samstag eigentlich auch ein Dienstag sein könnte und es sicherer ist, mal nichts zu unternehmen? Die Aufmerksamkeit verlagert sich in die digitale Welt. Auswahl gibt es genug. Plötzlich wird die Produktivität inszeniert - wir arbeiten auf Hochtouren:  Homeworkouts und 10.000 Schritte täglich, joggen und die Küche streichen. Ausmisten und Rad schlagen. In den ersten Lockdown-Wochen schien es, als hätten alle Menschen zum ersten Mal einen Kochlöffel in die Hand genommen. Die Feeds waren voll mit aufwändigen, seltenen und malerischen Gerichten. Haben sich vorher alle nur von Tütensuppe und Toastbrot ernährt? 

Es stresst 

Es herrscht globaler Stillstand. In manchen Teilen der Welt mehr als in anderen – aber immerhin: Keine Normalität. Und doch regt sich beim Durchscrollen diverser Social Media Apps ein beklemmendes Gefühl: FOMO. Die Angst etwas zu verpassen, ist auch in der Zeit, wo man eigentlich nichts verpassen kann, immer noch da. Uns wird vermittelt: Jeder mistet gerade aus, jeder meditiert und renoviert, lernt eine neue Sprache oder trifft sich mit seinen Freunden in virtuellen Chaträumen. Jeder hat Spaß, ist produktiv und optimiert. Nur ich nicht. 

FOMO kann ernsthafte Konsequenzen haben 

Die Angst etwas zu verpassen, wenn es eigentlich nichts zum Verpassen gibt. FOMO klingt zuerst wie ein Luxusproblem – in einer globalen Krise noch mehr als normalerweise. Doch damit ist nicht zu spaßen. Gerade Jugendliche orientieren sich stark an Gleichaltrigen und versuchen ihre Identität mit Hilfe der sozialen Medien zu formen und zu gestalten. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist nach wie vor sehr wichtig und diese gefühlte „Ausgeschlossenheit“ wirkt sich negativ auf die Lebenszufriedenheit aus. Isolation und diverse Ängste können mitunter auch zu Depressionen führen und die Gefahr ist in Zeiten wie diesen auch deutlich größer.  

Was tun?

  • Social Media Detox: Ganz ehrlich, wenn nicht jetzt, wann dann? Verpassen werden Sie ganz sicher nichts. 
  • Bildschirmzeiten festlegen: Scrollen sie in Ihren Pausen nicht sinnlos durch TikTok, Facebook oder Instagram. Setzen Sie sich Zeitlimits und halten Sie sich auch daran. 
  • Kein Handy im Schlafzimmer: Vermeiden Sie es, ihr Handy mit ins Bett zu nehmen oder gleich nach dem Aufwachen, Ihre Nachrichten zu checken. Schalten Sie das Handy aus. Und: Legen Sie sich einen analogen Wecker zu.
  • Kein Druck: Erinnern Sie sich immer wieder daran, dass Social Media nur einen Ausschnitt Ihres Alltags zeigt. Niemand postet einen Beziehungsstreit oder Zahnpasta-Flecken auf dem Shirt. 
  • Entfolgen Sie: Und zwar radikal! Wenn Sie sich von Influencern oder Menschen aus Ihrem Freundeskreis unter Druck gesetzt fühlen, entfolgen Sie ihnen ganz einfach. Sie brauchen diese Trigger nicht in Ihrem Leben. 
  • Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl: Machen Sie das, was Ihnen gut tut. Kopfüber auf der Couch liegen, bis Ihnen das Blut in den Kopf steigt? Natürlich. Ein Workout? Selbstverständlich. Sauerteig ansetzen, ihn tagtäglich hegen und pflegen – oder kalte Pizza essen? Alles ist in Ordnung.
  • Kein Posting-Zwang: Sie müssen gerade nicht Ihren Alltag zeigen. Sie müssen überhaupt nichts. Ihre Follower müssen nicht alles wissen – diese ständige Selbstdarstellung und Inszenierung setzt nur unnötig unter Druck. Und: Selbstgebackenes Brot schmeckt auch ohne Filter gut! 

Bei psychischen Krisen können Ihnen die Experten der Psychosozialen Dienste Wien  (täglich von 0-24 Uhr)  unter der Nummer (01) 31 33 0 helfen. Auch die Telefonseelsorge können Sie rund um die Uhr unter der Nummer 142 erreichen  www.telefonseelsorge.at

 

 

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