Psychosoziale Dienste - Anforderungen im Wandel

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Seit 1. Jänner ist der Gerontopsychiater Georg Psota Chefarzt der Psychosozialen Dienste (PSD) in Wien. Wurden von dem 1980 gegründeten ambulanten Versorgungsnetz am Beginn vor allem ehemalige Psychiatrieklinik-Langzeitpatienten betreut, hat sich die Klientel seither deutlich gewandelt. "Wir haben eine wachsende Problematik mit den 'drei Ds' - Demenz, Delirium und Depression. Davon sind beispielsweise 35 bis 45 Prozent der über 80-Jährigen betroffen", erklärte der Experte jetzt in einem Gespräch mit der APA.

Noch immer werden psychisch Kranke oft diskriminiert und stigmatisiert. Doch psychische Leiden spielen sich mitten in der Gesellschaft ab: Ein Prozent der Österreicher leiden an Schizophrenie, 870.000 haben ein Alkoholproblem, fast 110.000 Menschen sind dement, 400.000 depressiv. Psota: "Psychische Erkrankungen sind eine Herausforderung an Alle." Eine Organisation - auch nicht die größte derartige in Österreich - könne längst nicht mehr eine Vollversorgung gewährleisten.

"Eine Vollversorgung durch eine Institution und nur durch die Psychiatrie ist bei diesen Zahlen unmöglich. Wir müssen stattdessen das Wissen über die Betreuung der Betroffenen in alle Bereiche hinein bringen. Dazu zählen neben den Angehörigen und den Ärzten der verschiedenen Fachrichtungen die sozialen Dienste, genauso wie beispielsweise auch die Exekutive", sagte Psota.

Wenige Kassenverträge

Der Psychiater hat die Nachfolge von PSD-Gründer Stephan Rudas quasi zu einem historischen Moment angetreten. Der PSD hat in den Jahren seit 1980 (erstes ambulantes Behandlungszentrum in Wien-Floridsdorf) wesentlich dazu beigetragen, dass die Behandlung psychisch schwer Kranker in Wien zu einem beträchtlichen Teil ambulant funktioniert - bei gleichzeitig weitgehender Leerung der alten stationären Langzeit-Psychiatrie. Und das, obwohl in Wien nur rund zehn Prozent der 200 niedergelassenen Psychiater einen Kassenvertrag haben.

Psota: "Wir haben mittlerweile sehr verschiedene Gruppen von Patienten, die wir betreuen und behandeln. Da sind erstens jene alt gewordenen psychisch Kranken, die durch die Wiener Psychiatriereform aus den Anstalten heraus kamen. Die sind mittlerweile älter als 60 Jahre. Sie sind durch langfristige Behandlung und in geeigneten Rahmenbedingungen oft einigermaßen stabil, man muss sich bei ihrer Betreuung aber zunehmend auch um die körperlichen Aspekte kümmern, weil die Menschen eben älter werden."

Die zweite Gruppe laut dem Experten: " Relativ junge Personen, die Psychosen entwickelt haben, schwere (oft bipolare) Depressionen oder andere psychiatrische Erkrankungen wie beispielsweise das Borderline Syndrom haben und Behandlung unter den multiprofessionellen Bedingungen des PSD Wien für viele Jahre brauchen. Aber auch Patientinnen und Patienten mit mittelgradigen Depressionen und Angststörungen, die kurz bis mittelfristig eine psychiatrische Betreuung durch uns benötigen, bis sie von niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiatern betreut werden können."

Senioren vulnerabel

Eine besondere Herausforderung stellt außerdem die wachsende Zahl der Betagten und hoch Betagten dar: Menschen, die jahrzehntelang gesund und unauffällig gelebt haben und die gerade in einem Lebensabschnitt, in dem der Beistand durch Angehörige etc. schwächer wird, eines oder mehrere der "drei Ds" entwickeln.

Darüber hinaus gibt es noch weitere Entwicklungen, welche für das Gesundheits- und Sozialwesen insgesamt, für die Psychiatrie und die Psychosozialen Dienste in Wien eine Herausforderung darstellen. Psota: "Die Klientel ist viel diverser geworden. 30 Prozent unserer Patienten sind Migranten. Hier schlägt auch die Regionalisierung der Länder durch, bei denen Flüchtlingen Asyl gewährt wird. Wir bräuchten in der Krankenpflege auch mehr Menschen, die Deutsch nicht als Muttersprache haben. Aber da ist der Zustrom nicht sehr groß, wobei zu hoffen ist, dass sich dieser Umstand in einigen Jahren ändert. Wir haben auch zahlreiche Erwachsene mit Psychosen und die ersten Episoden finden oft schon vor dem Alter von 18 oder 19 Jahren statt. Hier kommen auch jüngere Erwachsene mit erheblichen Residualzuständen ("Restzuständen", Anm.) zu uns, weil sie sich am Beginn einer sinnvollen Behandlung entzogen haben."

Über allem aber schwebt - offenbar zunehmend - auch das Problem der sozialen Lage der Betroffenen. Der Psychiater: "Wenn in eine Ambulanz von uns 1.000 Patientinnen und Patienten im Jahr kommen, dann sind von ihnen 500 bis 700 sozial ziemlich bedürftig." Auch hier gelte es, eine entsprechende Versorgung sicherzustellen.

Breites Versorgungsnetz

Das alles summiert sich zu einem ausgesprochen breit gespannten Versorgungsnetz für psychisch Kranke, jedenfalls dem größten in Österreich: Es gibt rund 240 Mitarbeiter. Etwa 15 Prozent (in Vollzeitäquivalenten) davon sind Ärzte. Man betreut pro Jahr - den Notdienst inklusive - weit über 10.000 Personen. Rund 7.000 davon nehmen die Betreuung in allgemeinpsychiatrischen Ambulatorien in Anspruch. Die Zahl der Patientenkontakte beträgt pro Jahr rund 150.000.

Die ambulante Versorgung ist nicht nur lebensfreundlicher für die Betroffenen, sondern auch dramatisch kostengünstiger als Spitalsaufenthalte. Man rechnet, dass die Einrichtung einer einzigen 70- bis 80-Betten-Abteilung und deren Betrieb das Gesamtbudget des PSD Wien aufbrauchen würde. Stattdessen gibt es heute im Otto-Wagner-Spital, Kaiser-Franz-Josef-Spital und SMZ-Ost insgesamt rund 500 vollstationäre Psychiatrie-Betten, wobei Psota hier meint, dass man damit am unteren Limit angekommen sei. Ehemals waren es allein am Otto-Wagner-Spital 2.705 gewesen.

Die größte Brisanz hat unbestritten der "Spezialfall Demenz". Hier stehen die USA, Japan und Europa vor einer ungeheuren gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Herausforderung. Der Psychiater warnte bereits vor einiger Zeit: "Das ist 'die Sache' für Europa und die USA. Das ist für Europa das, was Aids in Afrika ist." Schon bald könnte das Netz der Betreuung der Betroffenen zu Hause reißen. Der PSD-Chefarzt: "Vier von fünf Dementen leben in Österreich derzeit zu Hause. Drei von vier Demenzkranken werden von Familienangehörigen betreut. Doch zwei von drei betreuenden Angehörigen sind selbst über 60 Jahre alt."

In der Stadt sei die Situation noch brisanter als auf dem Land. Im "Ein-Personen-Haushalt mit Katze" könne eben niemand mehr aus der Familie die Versorgung des Betroffenen übernehmen. Zusätzlich gibt es sowohl einen Mangel an Psychiatern als auch an psychiatrischen Krankenpflegepersonal. Der Zustrom dieser Berufsgruppen zur Schwerarbeit der Versorgungspsychiatrie sei "bescheiden".

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