Polio-Virus tückischer als gedacht

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Das Polio-Virus, das die Kinderlähmung auslöst, widersetzt sich der seit 1988 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geplanten Ausrottung hartnäckig. 1909 wurde der Erreger von dem Entdecker der Blutgruppen, dem aus Wien stammenden Medizin-Nobelpreisträger Karl Landsteiner, entdeckt. Besonders in chaotischen Staaten wie Afghanistan, Pakistan, Indien und Nigeria zirkuliert das Virus, hieß es bei einer Pressekonferenz in Wien. An der Akademie der Wissenschaften in Wien findet am Freitag (20. November) ein wissenschaftliches Symposium zu dem Thema statt, an dem zahlreiche internationale Experten teilnehmen.

Der Wiener Immundermatologe Georg Stingl erklärte bei der Pressekonferenz: "Karl Landsteiner hat um 1900 die Blutgruppen entdeckt. Er erhielt den Nobelpreis. Sein Vertrag an der Universitätsklinik wurde nicht verlängert, so arbeitete er am Wiener Wilhelminenspital. Es gab eine Polio-Epidemie. Ein junger Bub, Fritz S., wurde mit einem dramatischen Verlauf eingeliefert. Er entwickelte binnen 24 Stunden eine Paralyse und verstarb nach fünf Tagen." Landsteiner versuchte zunächst, in Kulturen von Rückenmarkgewebe des Kindes eventuell vorhandene Bakterien zu züchten. Das misslang. Dann injizierte er das Material Mäusen, Kaninchen, Meerschweinchen und Affen. Die Affen wurden krank. Hinter der Kinderlähmung steckte also eine übertragbare Infektion.

Der Wiener Virologe Franz X. Heinz: "Zu den großen Epidemien im 20. Jahrhundert kam es, weil durch die verbesserte Hygiene Kinder erst später infiziert wurden und sie nicht mehr den Schutz der Antikörper der Mutter hatten. 1955 gab es den ersten Impfstoff aus inaktivierten Viren. In den USA wurde ein Feldversuch mit 1,8 Mio. Kindern durchgeführt, von denen ein Teil Placebo erhielt. Am 12. April 1955 wurde die Studie geöffnet. Binnen zwei Stunden wurde der Impfstoff in den USA zugelassen. Im ganzen Land läuteten die Kirchenglocken." Vor allem wegen der leichteren Anwendung - es gab auch einen schweren Zwischenfall mit nicht vollständig inaktivierten Viren in Vakzine-Chargen - stellte man die Impfung schließlich auf den oral einzunehmenden Impfstoff mit attenuierten (abgeschwächten, Anm.) lebenden Viren um.

Eckard Wimmer, aus Deutschland stammender und in den USA arbeitender Molekularbiologe: "1988 hat sich die WHO entschlossen, den gleichen Angriff wie bei der Ausrottung der Pocken auch bei der Polio zu starten." Binnen elf Jahren war de facto eine der drei Virusvarianten (Polio 2) weltweit nicht mehr vorhanden. Die Zahl der Fälle sank von 380.000 im Jahr 1988 auf 791 im Jahr 2000. Doch obwohl dafür von Rotary Internation, der Bill and Melinda Gates-Stiftung und anderen Geldgebern bereits zwischen sechs und sieben Mrd. US-Dollar ausgegeben wurden, meldete sich das Virus zurück.

Ein Kinderlähmungsfall bedeutet bis zu 500 Infizierte

Der Experte: "Die Zahl der Erkrankungen und Infektionen dürfte wieder auf 200.000 gestiegen sein." Dafür sind nicht nur die zum Teil katastrophalen medizinischen Zustände in Afghanistan, Pakistan, Nigeria und Indien verantwortlich, welche die Durchimpfungskampagnen teilweise vereitelten. Es sind auch Fakten rund um den oralen Lebend-Impfstoff und das Virus selbst. So bedeutet ein Fall von Kinderlähmung einfach, dass weitere 100 bis 500 Menschen das Virus in sich tragen. Bei einer Infektion kommt es nämlich nur in einem von 100 bis 1.000 Fällen zu einer echten Kinderlähmung. Immungeschwächte können das Virus lange in sich tragen.

Auch das Impfvirus selbst kann in sehr seltenen Fällen eine Erkrankung auslösen oder durch genetische Rekombination mit Coxsackie-Viren gefährlich werden. Möglicherweise wird deshalb auch in der weltweiten Kampagne zur Kontrolle der Polio auf den in Österreich seit fast zehn Jahren verwendeten injizierbaren Tot-Impfstoff umgestellt. Nach drei Teilimpfungen gibt es lebenslange Immunität.

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