Hochsensibilität & Verletzlichkeit

Erziehung: Gefühle ernst nehmen, nicht schmälern!

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Das Thema Hochsensibilität wird nach und nach präsenter. Was es bedeutet, außergewöhnlich sensibel zu sein und welche Ressourcen, Stärken und Chancen damit verbunden sind. 

Eine liebe Freundin lächelt zwar und behauptet, ihr ginge es gut -in ihrem Blick schwingt allerdings Traurigkeit mit. Im Kaufhaus tummeln sich die Menschen dicht an dicht, Weihnachtsmusik schallt aus den Lautsprechern, hier weint ein Kind, dort beschwert sich ein gestresster Kunde lautstark bei einer geknickt aussehenden Mitarbeiterin über das schlechte Service. Für viele Menschen sind all diese unterschiedlichen Einflüsse nicht weiter besonders, geschweige denn erwähnenswert. Für hochsensible Personen - ganz gleich, ob Kinder oder Erwachsene -allerdings schon.

Was ist Hochsensibilität? Denn hypersensible Personen (HSP) nehmen Stimmungen, zwischenmenschliche Spannungen, eigene und fremde Emotionen, innere und äußere Reize überdurchschnittlich intensiv wahr -sowohl im negativen als auch im positiven Sinne. Sie haben außergewöhnlich feine Antennen, bemerken mehr Details als andere, sind empfindlicher und empfindsamer, fühlen sich dadurch im Alltag emotional und auch körperlich oftmals stärker gefordert.

Verletzlichkeit macht stark. In der Psychologie wird Hochsensibilität als Persönlichkeitsmerkmal bezeichnet - keinesfalls als Störung oder als Krankheit. Denn unter der Voraussetzung persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten bergen viele Charaktereigenschaften hochsensibler Personen enormes Potenzial. Um genau diese Stärke, die in der vermeintlichen Verletzlichkeit schlummert, geht es auch in dem kürzlich erschienen Kinderbuch "Oma kommt zurück". Im Zentrum steht der 7-jährige Leo, der am liebsten Zeit mit seiner Oma verbringt. Als jedoch die Oma eines Tages nicht mehr zum Spielen auftaucht, wird Leos Mama einiges über ihren Sohn und dessen außergewöhnliche Gefühlswelt klar - gemeinsam finden die beiden heraus, dass Leo hochsensibel ist. Wir haben mit Buchautorin Sabine Wolfgang darüber gesprochen, wie wichtig es ist, sich als Elternteil im Bedarfsfall mit dem Thema Hochsensibilität auseinanderzusetzen, um das eigene Kind in seiner Persönlichkeit mit Liebe und Empathie stärken zu können.

Erziehung: Gefühle ernst nehmen, nicht schmälern!
© Barbara La
× Erziehung: Gefühle ernst nehmen, nicht schmälern!

Frau Wolfgang, wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Kinderbuch über Hochsensibilität zu schreiben?

Sabine Wolfgang: Auch wenn es vielleicht kitschig klingt, so war die Idee zu "Oma kommt zurück" eine Art Eingebung (lacht). Aufgrund meiner persönlichen Geschichte konnte ich mich besonders gut in den kleinen Leo hineinversetzen. Denn auch ich weiß seit etwa zwölf Jahren, dass ich hochsensibel bin, hatte davor allerdings viele Jahre das Gefühl, "nicht okay" zu sein. Als ich es herausfand, fiel mir eine riesige Last von den Schultern, ich verstand viele Dinge und vor allem mich selbst auf einmal wesentlich besser. Auch wenn das Thema Hochsensibilität heute viel präsenter als noch vor einigen Jahren ist, so hatte ich das Bedürfnis, mit meinem Buch einen weiteren Beitrag zu einem gesteigerten Verständnis für hochsensible Personen und insbesondere Kinder zu leisten. Denn hochsensibel ist man von Geburt an.

Welche Kern-Message möchten Sie mit "Oma kommt zurück" vermitteln?

Sabine Wolfgang: Im Wesentlichen geht es darum, hochsensiblen Kindern - und natürlich auch Erwachsenen - das Gefühl zu geben, dass sie liebenswert und wertvoll sind - und zwar genau so, wie sie sind, mit all ihren Gefühlen und Empfindungen. Denn es ist okay und völlig in Ordnung, hochsensibel zu sein. Ich selbst hatte als Teenager immer das Gefühl, zu schwach, zu wehleidig oder zu empfindlich zu sein. Oft habe ich das Feedback bekommen, ich sei so schnell beleidigt, so angerührt, der Pullover sei doch gar nicht kratzig oder der blaue Fleck könne doch gar nicht so weh tun. Meine Empfindungen wurden oft kleingeredet bzw. nicht ernst genommen, während ich mir selbst dachte: Ich empfinde und fühle gewisse Dinge aber eben intensiver. Heute weiß ich, dass das okay ist, dass alle hochsensiblen Menschen stärker fühlen. Hochsensibilität betrifft im Übrigen etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung und damit gar nicht einmal so wenige Menschen.

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© Getty Images
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Was brauchen hochsensible Kinder und auch Erwachsene, um sich geliebt, geborgen und akzeptiert zu fühlen?

Sabine Wolfgang: All das sind im Grunde genommen soziale Grundbedürfnisse, die jeder Mensch hat -egal ob hochsensibel oder nicht, egal ob Kind oder Erwachsener. Im Umgang mit hochsensiblen Kindern ist es ganz wichtig, deren Bedürfnisse und Emotionen ernst zu nehmen, Wahrnehmungen nicht zu schmälern, Befindlichkeiten eben nicht kleinzureden, oder dem Kind sogar abzusprechen. Denn wenn ein Kind äußert, dass es ihm nicht gut geht und man dieses Gefühl aus der eigenen Perspektive heraus als Nichtigkeit abstempelt, so spricht man dem Kind damit auch ab, auf den eigenen Körper, die eigene Emotion zu hören. Und gerade der Draht zum eigenen Körper und die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu spüren und auch äußern zu können, zählen zu den großen Stärken hochsensibler Personen -vor allem im Hinblick auf (spätere) Beziehungen. Haben Eltern mehrere Kinder, kann es sein, dass nur eines hochsensibel ist. Hier ist ganz wichtig, nicht zu vergleichen und das hochsensible Kind nicht als "schwieriger, wehleidiger oder gar anstrengender" abzuwerten.

Welche Stärken und welches Potenzial birgt die Hochsensibilität sonst noch?

Sabine Wolfgang: Hochsensible Personen können sich sehr gut in andere Menschen hineinversetzen und nehmen Dinge und Emotionen wahr, die jemand anderem vielleicht gar nicht auffallen. Sie können meist sehr gut "zwischen den Zeilen lesen". Diese Fähigkeiten bringen sowohl im sozialen als auch im beruflichen Kontext, etwa im Kundenkontakt, der Beratung oder in der Kunst, viele Chancen mit sich.

Welche Tipps möchten Sie hochsensiblen Personen bzw. deren Angehörigen mitgeben?

Sabine Wolfgang: Natürlich ist es manchmal herausfordernd, so außergewöhnlich sensibel zu sein. Wenn einem einmal alles zu viel wird, ist es ganz wichtig, auf die eigenen Ressourcen und Grenzen zu achten und die Energiespeicher wieder aufzufüllen. Ist man als Elternteil für ein hochsensibles Kind und dessen Entwicklung verantwortlich, so ist es ganz wesentlich, das Kind liebevoll auf seinem Weg zu begleiten und ihm zu vermitteln, seine Hochsensibilität als wertvollen Teil der eigenen Persönlichkeit anzuerkennen und als Ressource schätzen zu lernen.

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© Getty Images
× Erziehung: Gefühle ernst nehmen, nicht schmälern!

So stärken Sie ihr Kind: 

* Emotionen ernst nehmen: Wenn Ihr Kind Bedürfnisse und Gefühle äußert, stülpen Sie ihm Ihre eigene Wahrnehmung keinesfalls über, sondern nehmen Sie stattdessen Ihr Kind ernst.

* Bewusstsein stärken: Der Draht zum eigenen Körper und Wohlbefinden ist eine große Stärke hochsensibler Menschen. Sprechen Sie Ihrem Kind seine Wahrnehmung nicht ab, bestärken Sie es lieber darin, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und auch zu äußern - eine wichtige Fähigkeit fürs Erwachsenen-Dasein.

* Auszeiten einplanen: Geben Sie Ihrem Kind die Möglichkeit auf Rückzug und Ruhe, um all die Eindrücke, die ungefiltert auf hochsensible Menschen einprasseln, verarbeiten und einordnen zu können.

* Sich Zeit nehmen: Hochsensible Kinder stellen oft viele Fragen, da sie sich viele Gedanken machen. Nehmen Sie sich Zeit, um darauf eingehen zu können.

* Vergleiche vermeiden: Haben Sie mehrere Kinder und ist nur eines davon hochsensibel, so vermeiden Sie es, zu vergleichen.

* Verständnis zeigen: Werten Sie Ihr Kind niemals ab, indem sie es als "schwieriger, wehleidiger oder leicht beleidigt" bezeichnen. Geben Sie Ihrem Kind das Gefühl, liebenswert und wertvoll zu sein - genau so, wie es eben ist.
 

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