Selfish Brain-Theorie: Wie Übergewicht entsteht

12.03.2010

Wenn es nach dem Lübecker Wissenschafter Achim Peters geht, entsteht Übergewicht durch Störungen in der Energieversorgung des Gehirns. Ein interdisziplinäres Forscherteam unter Peters Leitung hat den Erklärungsansatz mit der Bezeichnung "Selfish Brain-Theorie" experimentell belegt und nun geeignete Therapieformen entwickelt.

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Diese Therapieformen hat Peters nun beim Ernährungskongress der Diaetologen Österreichs am Freitag in Wien vorgestellt. Die Frage, die ihn auf die Spur dieser neurobiologischen Erklärung von Übergewicht und Diabetes-Typ-2 brachte, war genau betrachtet eine recht einfache. "Mich interessierte, was mit der durch die Nahrung aufgenommenen Glukose (Traubenzucker, Anm.) im Körper letztendlich passiert", erklärte der Diabetologe. "Ich rekonstruierte den Verlauf der Lieferkette der Energie im menschlichen Organismus über den bisherigen Wissensstand hinaus." Ergebnis war 1998 die Grundlegung der "Selfish Brain-Theorie", der Theorie vom selbstsüchtigen oder egoistischen Gehirn.

Die Kernthese: "Das Ende der Energielieferkette ist das Gehirn. Es organisiert die Energieversorgung des Körpers so, dass es seine Bedürfnisse als größter Endkonsument von Glukose befriedigen kann." Das Gehirn verbraucht 50 Prozent des täglichen Glukose-Bedarfs eines Menschen - in belastenden Stresssituationen sogar 90 Prozent. Peters und seine Kollegen konnten experimentell nachweisen, dass sich in Belastungssituationen mit Über- und Unterangebot von Glukose im Blut die hochenergiereichen Substanzen im Gehirn auf Kosten derer im Muskelgewebe entwickeln.

Seinen hohen Bedarf deckt das Gehirn, indem es sich im übertragenen Sinn selbstsüchtig verhält. "Das Gehirn steht mit den anderen Organen im Wettbewerb", erläutert Peters, "es beschafft seine Energie durch Allokation, durch Umverteilung: Anderen Organen wird Glukose entzogen, um diese selbst zu verbrauchen."

Zumindest gilt das für einen gesunden Organismus. Auf Anomalien der Energieversorgung des Gehirns führt Peters Erkrankungen zurück, von denen viele Millionen Menschen weltweit betroffen sind: Adipositas und Diabetes-Typ-2. "Dann liegt vor, was Logistiker einen Stau in der Lieferkette nennen", erklärte Peters.

Eine Schwächung des sympathischen Nervensystems löst Allokationsversagen aus: Nur ein geringer Teil der Energie gelangt zum Gehirn, der überwiegende Teil häuft sich stattdessen im Fett- und Muskelgewebe an. Für das von Unterversorgung bedrohte Gehirn wird Energie durch akute Nahrungsaufnahme beschafft. Es wird gegessen, obwohl der Körper bereits gesättigt ist. Ein Teufelskreis beginnt, denn wieder gelangt nur sehr wenig Glukose zum Gehirn, während die Fettpolster sich weiter auffüllen. Das Krankheitsbild der Adipositas stellt sich ein. Mehr noch: Wenn die Speicher voll sind, akkumuliert sich die Glukose im Blut. Es kommt zu Hyperglykämie, Überzuckerung - und zu Diabetes-Typ-2, erklärte Peters.

Die Ursachen sieht Peters in Störungen der Hirnregionen Amygdala, Hippocampus und Hypothalamus: "Das Gehirn ist gleichsam nicht mehr Herr im eigenen Haus. Die Befehle der hierarchisch höchsten zerebralen Hemisphären werden von untergeordneten Instanzen nicht richtig ausgeführt." Dafür können physische wie psychische Beeinträchtigungen verantwortlich sein. Es können mechanische Defekte (Tumore, Verletzungen) vorliegen, Gen-Defekte, eine Malprogrammierung (posttraumatische Belastungsstörungen, Konditionierung von Essverhalten, Werbung für Süßigkeiten, Anm.) oder Falsch-Signale durch Antidepressiva, Drogen, Alkohol, Pestizide, Süßstoffe oder Viren. Negativ beeinflusst werden davon das Orientierungsvermögen, die Fortpflanzungsfähigkeit und natürlich das Essverhalten.

Andererseits erscheint Peters das Verhalten als der Schlüssel zu einer neuartigen Therapie - wenn es nämlich nachhaltig verändert werden kann. Als Beispiel nennt er den bei adipösen Patienten beobachteten Zusammenhang zwischen der Vermeidung von Konflikten und dem Konsum von Süßigkeiten. "Das defensive Verhalten und die direkte Zufuhr von Glukose verhindern, dass das Stresssystem richtig arbeitet und Glukose allokiert wird". Helfen könne hier eine umfassende Verhaltenstherapie, die die Vielfalt sozialer Interaktionsmöglichkeiten auch in Stresssituationen reaktiviert. Die Möglichkeit dazu gibt die Plastizität und Lernfähigkeit des Gehirns selbst. "Andernfalls wird für die Betroffenen Essen, ohne hungrig zu sein, die monotone Antwort auf jedes Problem", meinte Peters.

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