"Enkelinnen" der Stones starten Britsoul-Invasion

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Die Britrocker pfeifen auf dem letzten Loch, die Britpopper singen ohne ihre Zugpferde Blur und Oasis: Mit Britsoul will eine neue Musikergeneration nun den englischen Sound auf Weltniveau zurückspielen. Amy Winehouse hat es vorgemacht. Von ihr erwartet aber kaum jemand mehr neuen Klangstoff. Die Hoffnungen ruhen vor allem auf Sängerinnen wie Leona Lewis, Duffy oder Joss Stone.

In der britischen Musikszene rumort es gewaltig. Nach dem Aus von Oasis mit den Gallagher-Brüdern kündigten die Kaiser Chiefs eine kreative Pause an. Bereits zuvor nahmen die Britpop-Gurus von Blur Abstand von ihrem Comeback; mehr als die Konzerte im Sommer wird es nicht geben. Die Rock-Rentner dagegen ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus - die Beatles leben dieser Tage mit digitalisierten Songs mal wieder hoch. Auch der Abgesang der Girl- und Boygroups wie Spice Girls und Take That ist längst durch; ihre Comebacks konnten nicht an die Erfolge des vergangenen Jahrzehnts anknüpfen. Dieses Klima ist der Nährboden für die momentane Britsoul-Invasion.

Nicht in Manchester, nicht in Liverpool - in London spielt die Musik. In einer nahezu männerfreien Zone treten immer mehr Girlies auf, seitdem klar ist, dass Drogen und Alkohol Britsoul-Queen Amy Winehouse den Weg zurück zum Erfolg vernebelt haben. Leona Lewis, Lily Allen, Kate Nash, Duffy, Adele, Estelle, Joss Stone, Gabriella Cilmi - sie sind alle in etwa gleich jung. Cilmi, das 17-jährige Küken unter ihnen, zog eigens für ihre Karriere von Australien nach London. "Das ist momentan der Nabel der Welt", so die Sängerin. Die Souldamen könnten, so rebellisch wie sie sind, die Enkelinnen der Rolling Stones sein. Doch ihre Formel lautet: Sex, Drugs & Soul.

Die meisten der jungen Souldiven kamen in ruppigen Vierteln der britischen Hauptstadt zur Welt. Ihre Texte sind oft direkt, bissig und zuweilen obszön. Lily Allen verarbeitet etwa in ihrem Lied "Fuck You" die Borniertheit der älteren Generation. Drastische Offenheit ist auch abseits der Bühne angesagt. Allens Spiegelbild in den USA, Katy Perry, unterhielt sich mit Newcomerin Florence Welch - intim wie in Charlotte Roches Debütroman "Feuchtgebiete" - über Blasenschwäche auf der Bühne. "Natürlich kannst Du auf der Bühne pissen, wenn Du willst, es ist doch deine Bühne", sagte die 23-jährige Welch.

Welch mit ihrer Band Florence + the Machine sowie das Trio Noisettes sind auf der Insel derzeit die angesagtesten Soul-Sprösslinge. Beide Gruppen schlugen erst mit Punk auf, entdecken nun aber die Liebe zum Gospel. Die Noisettes gelten als beste Liveband ("The Guardian"), Florence + the Machine waren Favorit für den begehrten Mercury Prize für das beste britische Album. Der Preis ging aber an die Außenseiterin Speech Debelle, die mit Soulstimme den Rap Gefühl einhaucht. Einige dieser Mädels tummeln sich Ende September und im Oktober in deutschen Konzertsälen.

"Es ist Zeit für coole, vielfältige Musik", so die quirlige Noisettes-Sängerin Shingai Shoniwa. "Wie unfair war das denn bitteschön, immer dieselbe Leier, diese maschinell hergestellten Lieder vorgesetzt zu bekommen? Girls Aloud, Take That, Spice Girls - als Teenager hatten wir wirklich keine Auswahl." Die neue Generation könne auch ohne Strom auf der Bühne Musik machen.

Florence + the Machine setzen sich schon mal in den Hyde Park, um entlang des Princess Diana Memorial Walks Musik zu machen. "Als ich anfing, Musik zu machen, war meine Stimme das einzige Instrument, das ich spielen konnte", sagt Welch. "Ich liebe Annie Lennox und Kate Bush und diesen experimentellen elektronischen Klang, zum Beispiel wenn ich meine Stimme durch verschiedene Mikros jage und mit Verzerrung Atmosphäre erzeuge", sagt sie und kippelt mit dem Stuhl und fuchtelt mit den Händen. "Ich muss immer tanzen oder hüpfen oder in Bewegung sein. Diese Freude ist ansteckend."

Keine traut sich aber, Soul-Königin Amy zu kritisieren. Winehouse habe "überirdisches Talent", sagen sie übereinstimmend, als ob es so in der Bibel stünde. Doch Winehouse ist nicht das einzige musikalische Vorbild für die Souldamen. Neben Kate Bush sorgt vor allem der Name Nina Simone für Begeisterung und Gänsehaut bei den jungen Londonerinnen.

Schon der Walise Tom Jones ("It's Not Unusual") und die Londonerin Dusty Springfield ("Son of a Preacher Man") begannen in den 60ern gegen die Allmacht der Stones und der Beatles den Soul zu etablieren. Mit Simply Red ("The Right Thing") und Lisa Stansfield ("This Is The Right Time") schwappte in den 80ern eine zweite Welle von der Insel herüber. Auch die neue, dritte Soulgeneration ist in der Erfolgsspur. Adele war der Star der Grammys 2009, gewann goldene Grammophone als bester neuer Künstler und beste weibliche Gesangsdarbietung Pop. Die Trophäen kamen bei ihr in die Glasvitrine vor der Toilette, verriet die 21-Jährige im MySpace-Blog.

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