Süß: Franzose schafft riesige Schoko-Skulpturen

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Verzückt betrachtet Patrick Roger das massive Hinterteil der nach vorn gebeugten Tänzerin. Das kranzförmig abstehende Tutu-Röckchen entblößt die drallen Oberschenkel. "Zum Anknabbern", meint Roger und grinst. Die fast lebensgroße Tänzerin aus Schokolade zählt zu seinen Lieblingswerken. Sie schmückte zum vergangenen Valentinstag das Schaufenster einer seiner Pariser Pralinen-Boutiquen.

Kurz vor Ostern herrscht in seinem Atelier Hochbetrieb. In dieser Zeit werden in Frankreich die Schaufenster der Confiserien traditionell besonders aufwendig dekoriert. Der 41-Jährige mit Pferdeschwanz und Vollbart ist ein Rebell unter den Chocolatiers, wie die Pralinen-Hersteller in Frankreich heißen. Er hat zahlreiche Auszeichnungen gewonnen und ist Bildhauer und Feinschmecker zugleich. Roger hat schon die Berliner Mauer und einen Elefanten in Lebensgröße aus Schokolade modelliert. Daneben kreiert er immer wieder neue Köstlichkeiten. Kürzlich hat er Pralinen mit dem Aroma von Guinness-Bier entworfen.

Auf seinem Arbeitstisch liegen ein gutes Dutzend Ratten in Reih und Glied. Die Schokoladentiere sollen Teil der diesjährigen Osterdekoration werden. Konzentriert schabt Roger mit einem Skalpell in den Augen der Ratten und verschafft ihnen mit kleinen Kratzern einen amüsierten Blick. "Wenn ich arbeite, vergesse ich alles um mich herum", sagt er. Im Atelier trägt er seine doppelreihig geknöpfte Kochjacke mit blau-weiß-rotem Stehkragen und eingesticktem Namen zu einer durchlöcherten Jeans.

Roger stammt zwar aus einer Bäckerfamilie, aber zunächst sah es gar nicht danach aus, als ob er einmal zu den gefragtesten Schokokünstlern werden würde. "Meine Eltern mussten immer mitten in der Nacht aufstehen, das war das Letzte, was ich wollte", erzählt er. In dem winzigen Dorf Poislay - eine Kirche, eine Schule, eine Bäckerei - gab es wenig Möglichkeiten, den Horizont zu erweitern. "Ich hatte mit 16 keine Ahnung, was ich werden wollte. Da haben mir meine Eltern eben eine Lehrstelle verschafft."

Bereits seine ersten Pralinen fertigte er aus Leidenschaft - allerdings nicht zur Schokolade, sondern zu Motorrädern. Er verkaufte sie in der Bäckerei seiner Eltern, um Geld für seine erste 125er Maschine zusammenzusparen. In den ersten Monaten seiner Lehrzeit musste er literweise Vanillecreme anrühren und Windbeutel füllen - bis er eines Tages die Schokolade für sich entdeckte. Damals arbeitete er bereits für eine Pariser Konditorei und sollte einen Tennisschläger aus Schokolade für Frankreichs Racket-Star Yannick Noah schaffen.

Wie die Haut einer Frau

"Mir wurde klar, dass man aus Schokolade einfach alles machen kann", sagt er. "Schokolade ist entweder flüssig oder weich oder fest. Man kann sie gießen, modellieren, behauen." Es sei eine Arbeit, die alle Sinne anspreche, vor allem den Geschmacks- und den Tastsinn. "Die Oberfläche von Schokolade fühlt sich an wie die Haut einer Frau", das ist einfach genial", meint Roger.

Seine Werkstatt hat er heute in Sceaux, einem schicken Vorort von Paris. Vor der Tür steht ein türkisfarbener Fiat 500, in der Farbe, die sein Markenzeichen wurde. Wochenlang hat er daran gewerkelt und stapelweise Papier verbraucht, um genau den Ton zu treffen, der ihm vorschwebte. "Ich bin eben Perfektionist", sagt er fast entschuldigend.

In der tageslichthellen Halle riecht es betörend nach Schokolade und gebrannten Mandeln, die gerade für eine neue Pralinenkollektion zubereitet werden. Roger greift sich aus einem Metallbehälter ein Bruchstück dunkelglänzender Bitterschokolade und verputzt es genüsslich. "Ich esse jeden Tag etwa 300 Gramm Schokolade", erzählt er. Wie schafft er es dennoch, kein Kilo zu viel auf den Rippen zu haben? "Dafür trinke ich keinen Tropfen Alkohol und esse so ausgewogen wie möglich", sagt er und drückt aus einer Spritztülle etwas Sahnecreme auf den Finger, um sie zu testen.

Schokolade - das ist nichts anderes als Kakaobutter, die mit Zucker und Milch gemischt wird. Erfunden haben sie die Azteken in Mittelamerika, in Frankreich ist sie erst seit dem 17. Jahrhundert bekannt. Sonnenkönig Ludwig XIV. war es, der den Handel mit Schokolade zuließ und auf seinem Schloss in Versailles heißen Kakao als Königsgetränk genoss. Mehrere Päpste erörterten später die Frage, ob heiße Schokolade als Getränk oder als Nahrung gelte. Sie entschieden sich für ersteres, so dass der Genuss auch während der Fastenzeit erlaubt war.

Mit seiner Schoko-Bildhauerei hat Roger sich in den vergangenen Jahren auf immer gewagtere Experimente eingelassen. 1994 gewann er den Grand Prix International de la Chocolaterie mit einer Skulptur, die eine Gruppe von sieben Kindern beim Spielen zeigt. Vorlage war ein Werk eines französischen Künstlers aus dem 17. Jahrhundert, das seine Freundin Véronique im Louvre entdeckt hatte. Sie steht noch heute unter einer Glaspyramide in seiner Werkstatt - aber die Schokolade dürfte längst nicht mehr genießbar sein.

"Mein größter Misserfolg war der Elefant, den ich in Lebensgröße bauen wollte", erzählt Roger. "Der ist mir leider zusammengebrochen." Auch politische Botschaften lassen sich seiner Ansicht nach mit veredelter Kakaomasse verbreiten - etwa durch Schoko-Eisschollen mit Schoko-Eisbären, mit denen er in seinen Schaufenstern das Problem das Klimawandels auf ungewöhnliche Weise ansprechen wollte.

Und schließlich die Berliner Mauer. "Es ist peinlich, aber ich wusste als Jugendlicher nicht mal, dass sie existierte", sagt er. "Wir haben in der Schule und zu Hause kaum vom Krieg oder von Deutschland gesprochen." Rechtzeitig zum 20. Jahrestag des Mauerfalls im vergangenen November hatte er seine 17 Meter lange Schokoladenmauer fertig - samt buntem Graffiti, das er mit Lebensmittelfarben aufgesprüht hat. Innen besteht die Mauer aus Schokoröhren, damit sie stabil steht und nicht allzu schwer ist.

Schokomauer am 9. November eingerissen

"Über eine Tonne Schokolade habe ich verbraucht", sagt er stolz. Am Abend des 9. November hat er sie dann eingerissen und die Bruchstücke gratis an Passanten verteilt. "Am liebsten hätte ich auch Angela Merkel ein Stück zukommen lassen, aber das Bundeskanzleramt hat sich nie auf unser Angebot gemeldet", bedauert er. Etwa 600 Arbeitsstunden habe er für die süße Mauer verwandt.

Weil Schokolade nicht ewig hält, hat Roger irgendwann begonnen, seine Werke in Bronze zu gießen. So etwa "Harold", die 62 Kilo schwere Statue eines schwarzen Arbeiters in den Kakaoplantagen in Lebensgröße. "Ich habe vorher nicht mal eine Skizze gemacht, sondern gleich mit der Schokolade modelliert", erzählt Roger. Der Mann hockt auf dem Boden und hält eine Kakaoschote in den Händen - das Motiv mag nicht jedermanns Geschmack sein, aber technisch ist es ein Meisterwerk: Der Schokomann hält sich lediglich auf den Zehenspitzen.

Was seinen feinen Gaumen angeht, ist Roger bis heute seinen Eltern dankbar. "Es gab bei uns nie etwas aus der Konservendose, ich glaube, das hat mein Geschmacksempfinden sehr geprägt", meint er. Bis heute vermeidet er Fertigprodukte und isst am liebsten Gemüse aus dem eigenen Garten. Um auf neue Ideen für seine Pralinen zu kommen, lässt er sich von allem möglichen inspirieren. "Das kann ein Spaziergang am Meer oder ein Ausflug in den Wald sein."

Den Trend zu originell aromatisierter Schokolade hat er durch seine Kreationen vermutlich ein wenig mitbestimmt. Himbeer-Essig, Thymian, Pfeffer oder Zitrone hat er schon seinen Pralinen beigemischt. Das soll schmecken? "Probieren Sie!", sagt er und lächelt zufrieden.

INFO: http://www.patrickroger.com/

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