Gendermedizin

Gesundheits-Guide für Frauen

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Frauensache. Frauen werden anders krank als Männer, aber oft schlechter diagnostiziert und behandelt.

Es gibt ihn, den sogenannten „kleinen Unterschied“ zwischen Mann und Frau. Dies zeigen ganz deutlich die neuen Entwicklungen der Gendermedizin. 
Frage des Geschlechts. „Gendermedizin beschäftigt sich mit den physiologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau und wie Risikofaktoren, Symptome, Manifestationen und Behandlung von Erkrankungen variieren,“ erklärt Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Österreichs erste Professorin für Gendermedizin. Die Internistin und Diabetologin sowie Wissenschaftlerin des Jahres 2016 erforscht, was bei Gesundheit beziehungsweise Krankheit, aber auch bei Vorsorge, Diagnose und Therapie zwischen Frauen und Männern anders ist. „Unabhängig von den äußeren und inneren Geschlechtsorganen bemerkt man den Unterschied in allen Organen – er beginnt bereits auf Zellebene“, so die Gendermedizinerin. Auch die Enzymfunktion wie bei der Leber, die Ausscheidung über die Nieren oder der Magen-Darm-Trakt funktionieren bei der Frau anders als beim Mann. 
 
Erkrankungen. Dank des weiblichen Sexualhormons Östrogen haben Frauen bis zur Menopause durch ein stärkeres Immunsystem und den Schutz vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen einen biologischen Vorteil. Fällt nach den Wechseljahren die Schutzwirkung des Östrogen weg, entwickeln Frauen mehr Herzkrankheiten als Männer. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind mittlerweile Todesursache Nummer eins beim weiblichen Geschlecht. Zu „typischen Frauenerkrankungen“ zählen bestimmte Krebsarten oder Osteoporose. „Abhängig vom Lebensalter, beziehungsweise wie stark der Einfluss der Sexualhormone ist, leiden Frauen zudem häufiger unter Autoimmunerkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen, rheumatischen Erkrankungen, Multiple Sklerose, Schmerzsyndromen sowie Reizdarmsyndrom oder Migräne“, so die Expertin. Auch psychische Erkrankungen werden bei Frauen häufiger diagnostiziert. Einerseits ist dies auf biologische Ursachen wie hormonelle Schwankungen zurückzuführen, andererseits werden Frauen bei psychischen Belastungen schneller überdiagnostiziert.  
 
Gesundheit und Gender-Unterschiede
Hormone. Geschlechtshormone beeinflussen neben der Fortpflanzung auch Stoffwechsel, Immunsystem, Energiehaushalt oder das Herz-Kreislauf-System. Östrogen spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Prävention von Krankheiten.
 
Gene. Auf dem X-Chromosom liegen rund 1.500 Gene, die eine wichtige Funktion
für Herz-Kreislauf, Hirnfunktion und Immunsystem ausüben. Frauen besitzen zwei, Männer nur eines, dafür ein Y-Chromosom mit nur 78 Genen. Gene spielen nicht nur eine Rolle bei der Entstehung von Krankheiten, sondern auch bei der Wirksamkeit von Medikamenten.
 
Herz. Frauen haben feinere Gefäße, das Herz ist kleiner und schlägt schneller. Männer haben im Vergleich zum Körper ein um 10 Prozent größeres Herz und mehr Hämoglobin (Bindung von Sauerstoff).
 
Lunge. Männerlungen haben ein um 50 Prozent größeres Volumen. Aufgrund des niedrigeren Lungenvolumens und der engeren Atemwege sind weibliche Lungen empfindlicher und stärker von Asthma und COPD betroffen.
 
Leber. Leberzellen der Frau funktionieren anders als beim Mann. Die weiblichen Enzyme sind aktiver, weshalb einige Medikamente in der Leber schneller abgebaut werden.
 
Medizinische Betreuung. Lange Zeit galt – und gilt zum Teil noch immer – der Mann als „Prototyp“ in der Medizin. Frauen bekommen oft mehr Medikamente verschrieben, erreichen dennoch nicht die gewünschte Wirkung. Entweder stimmt die Dosierung nicht, oder sie werden schlechter vertragen. Laut aktuellen Untersuchungen leiden Frauen viel häufiger an Nebenwirkungen. Obwohl zahlreiche Studien zeigen, dass Medikamente in einem Frauenkörper ganz anders wirken als in dem eines Mannes, ist die Forschung auf Männer ausgerichtet. „Ich würde mir wünschen, dass sowohl in der Grundlagen- als auch in der klinischen Forschung das Geschlecht berücksichtigt wird“, so Dr. Kautzky-Willer „Vor allem wäre es wichtig, bereits vorhandenes Wissen in der Praxis besser umzusetzen.“
 
 
Krankheiten der Frauen
Herz-Kreislauf. Frauen bekommen zwar später einen Herzinfarkt als Männer (Schutzwirkung des Östrogens bis zur Menopause), sterben aber doppelt so häufig daran.
 
Brustkrebs. Mit rund 29 Prozent ist Brustkrebs die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Ab 20 Jahren wird neben der jährlichen gynäkologischen Brustuntersuchung eine regelmäßige Selbstuntersuchung empfohlen. Das österreichische Gesundheitssystem ermöglicht Frauen zwischen 45 und 69 Jahren alle zwei Jahre eine kostenlose Früherkennungs-Mammografie.
 
Unterleibskrebs. Gebärmutterkrebs ist der vierthäufigste Tumor der Frau. Infektionen durch Humane Papillomaviren (HPV) können zu Krebsvorstufen und in Folge zu Gebärmutterhals-, Scheidenkrebs oder Krebsformen im Bereich des Rachens und Kehlkopfes führen. Die HPV-Impfung schützt. Frauen ab 20 Jahren sollten jährlich beim Gynäkologen eine Kontrolle des Gebärmuttermundes und Krebsabstrich (PAP) zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs, ab  35 Jahren auch Ultraschall von Gebärmutter und Eierstöcken durchführen lassen.
 
Osteoporose. Ab 30 beginnt schleichend der Knochenabbau. Gefördert wird dieser durch hormonelle Veränderungen, weshalb Frauen in der zweiten Lebenshälfte besonders gefährdet sind. Zur Feststellung von Osteoporose dient die Knochendichtemessung. 
 
Blasenentzündung. Aufgrund der anatomischen Beschaffenheit der Harnröhre (ist kürzer und liegt daher näher am Darmausgang) erleiden Frauen häufiger eine Blasenentzündung als Männer.

 

Univ. Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer im Interview

 

Die Medizin ist männlich orientiert

Werden Männer und Frauen unterschiedlich krank?
Dr. Alexandra Kautzky-Willer: So ist es. Das beginnt bei den Risikofaktoren, bei der Pathophysiologie. Nimmt man den Herzinfarkt, da sind die Gefäßveränderungen anders. Frauen haben häufig nicht eine massive Gefäßverengung, sondern es sind anfangs eher funktionelle Gefäßveränderungen. Es sind tatsächlich unterschiedliche Entstehungen der Erkrankung und daher auch teilweise andere Symptome. Es liegt vielleicht auch daran, dass sie oft anders beschrieben werden, die Kommunikation unterschiedlich ist und die Beschwerden anders wahrgenommen werden.
 
Wo zeigen sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede am deutlichsten?
Dr. Kautzky-Willer: Es gibt klare körperliche Unterschiede, unabhängig von den äußeren oder inneren Geschlechtsorganen. Beispielsweise die Enzymfunktion der Leber, die Ausscheidung über die Nieren, der Transport über den Magen-Darm-Trakt sowohl der Nährstoffe als auch der Medikamente, wenn sie resorbiert werden, die Magensäureproduktion usw. Die Sexualhormone haben auch einen sehr großen Effekt, da sich überall an den Organen Rezeptoren, also Andockstellen für Sexualhormone, befinden und die Organfunktionen ganz wesentlich beeinflussen. Selbst auf Zellebene findet man Unterschiede. Davon unabhängig sind auch die Erfahrungen anders oder die Rolle in der Gesellschaft. Wer hat welche Arbeitsteilung, wer hat welche Belastungen sowohl körperlich, psychisch, wie geht man damit um, wie sind wir sozialisiert. Kultur ist auch ein wesentlicher Faktor.
 
Werden Frauen schlechter diagnostiziert und behandelt?
Dr. Kautzky-Willer: Wird bei der Diagnose zu wenig auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede eingegangen und eine Fehldiagnose gestellt, dann stimmt auch die Behandlung nicht. Frauen werden oft schlechter oder weniger genau diagnostiziert, Beschwerden werden schnell als psychische Störung abgetan, ohne zu schauen, ob andere Ursachen dahinter stecken. Frauen haben in jedem Lebensalter viel häufiger Nebenwirkungen bei medikamentösen Therapien und bekommen insgesamt mehr Medikamente verschrieben. Aber offensichtlich nicht immer die richtigen und nicht in der passenden Dosierung. Selbst bei Schmerzen sind sie oft untertherapiert, bekommen zwar Schmerzmittel aber trotzdem nicht so, dass sie schmerzfrei sind.
 
Werden Frauen in der Medikamentenforschung zu wenig berücksichtigt?
Dr. Kautzky-Willer: Frauen sind in der Medikamentenforschung noch immer unterrepräsentiert. Vor allem ist es meist nicht die Frau des realen Lebens. Da gibt es so viele Varianten: vor der Menopause, in der ersten oder zweiten Zyklushälfte, nach der Menopause, mit Hormonersatztherapie, mit Pille, Schwangerschaft, Stillphase etc. Die hormonelle Situation ist jedes Mal anders und man müsst eigentlich für alle diese Phasen die Medikamente testen, ob nicht eine andere Dosis zu berücksichtigen wäre oder andere Nebenwirkungen auftreten. Das wäre zu teuer. Meist werden postmenopausale Frauen herangezogen, da man keine Angst haben muss, dass es noch zu einer Schwangerschaft kommt. 
 
Wo wünschen Sie sich Verbesserungen?
Dr. Kautzky-Willer: Dass sowohl in der Grundlagenforschung als auch in der klinischen Forschung das Geschlecht berücksichtigt wird. Dass in allen Studien Männer und Frauen getrennt analysiert werden und dies auch entsprechend publiziert wird. Dass man in der Pharmaindustrie Frauen einschließt, vor allem verschiedene Lebensalter und Zyklusphasen und dass Genderprojekte besser gefördert werden. Persönlich wünsche ich mir besonders, dass das Wissen, das wir bereits haben und das schon sehr groß ist, in der Praxis mehr umgesetzt wird.   

Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer Professorin für Gendermedizin an der Med-Uni.Wien und Wissenschafterin des Jahres 2016

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