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Glass-Cliff-Phänomen: Was es damit auf sich hat

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In Österreich, aber auch weltweit sind Frauen in Top-Positionen immer noch eine Seltenheit. Gelingt ihnen dennoch der Weg an die Spitze, scheitern sie häufig trotzdem. Woran das liegt.

Das „Glass cliff“-Phänomen. „Wenn die Situation richtig schlecht ist, ruft man nach der Frau“, erklärte EZB-Präsidentin Christine Lagarde, als sie von Talkshow-Host Trevor Noah nach ihren Erfahrungen mit der „gläsernen Klippe“ gefragt wurde. Die „Glass cliff“-Theorie beschreibt das Phänomen, dass es zumeist Frauen sind, die in Krisenzeiten im Unternehmen das Ruder übernehmen müssen. Der Ausdruck wurde von zwei Wissenschaftlern der University of Exeter 2005 zum ersten Mal in einer Studie verwendet, die die Aussage eines Artikels der London Times untersuchte, in dem es hieß, dass weiblich geführte Unternehmen wirtschaftlich schlechter abschneiden würden. Der Begriff der „gläsernen Klippe“ baut laut den Studienleitern Michelle Ryan und Alex Haslam auf der Idee der „gläsernen Decke“ auf, die die Hürden beschreibt, die einer Frau auf dem Weg nach oben entgegenstehen. Demgegenüber haben Frauen, die auf der „gläsernen Klippe“ stehen, zwar die Führungsposition erreicht, ­befinden sich aber in einer potenziell erfolgloseren Ausgangslage. Ryan und Haslams Untersuchungen brachten zutage, dass nicht weibliche Führungsqualitäten das Problem seien, sondern vielmehr die Tatsache, dass Frauen zumeist dann in Toppositionen eingesetzt würden, wenn das jeweilige Unternehmen oder die Organisation am Straucheln sei. Ähnliches gelte übrigens auch für People of Colour, wie eine weiterführende Studie 2013 belegte.
 

Verstärkte Stereotype

Die „gläserne Klippe“ ist in vielerlei Bereichen eine Metapher dafür, dass Frauen nicht nur weniger Führungsmöglichkeiten bekommen als Männer, sondern dass die Möglichkeiten an sich auch sehr unterschiedlich verteilt sind. Soziologin Marianne Cooper zufolge liegt das an zweierlei Gründen. Einerseits kann die Ernennung einer Frau in die Führungsrolle eines Unternehmens oder einer Organisation einen „Richtungswechsel signalisieren“. Zweitens bestünde die Annahme, dass Männer Eigenschaften besitzen, die sie dazu befähigen würden, erfolgreiche Unternehmen zu führen, wohingegen weibliche Qualitäten sich eher für den Umgang mit schwierigen Situationen eignen. „Sollen Manager erfolgreicher Unternehmen beschrieben werden, zählen die Befragten vermehrt stereotyp männliche – bestimmend, überzeugend – Eigenschaften auf. Fragt man hingegen nach erstrebenswerten Eigenschaften für Manager unerfolgreicher Unternehmen, werden vornehmlich stereotyp weibliche – intuitiv, verständnisvoll – Charakteristika aufgezählt“, so Cooper in ihrem 2015 veröffentlichten Artikel. Ihr zufolge führe das „Glass cliff“-Phänomen zu zahlreichen, aber vornehmlich negativen Konsequenzen. Denn obwohl sie die Probleme nur übernehmen würden, würde Frauen auf der gläsernen Klippe oftmals die volle Verantwortung für den schlechten Zustand gegeben. Dies würde sich negativ auf ihre weiteren Karrierepläne auswirken. Darüber hinaus verstärkt die „Glass cliff“-Dynamik die Stereotype und kulturellen Überzeugungen, dass Männer bessere Führungspersönlichkeiten seien.
 

Win-Win for everyone? 


Psychologieprofessorin Kristin J. Anderson von der University of Houston sieht eine „zynische“ Rechtfertigung für das Phänomen darin, dass Unternehmen mit einer Frau an der Spitze in jedem Fall gewinnen. Wenn alles gut geht, haben alle davon profitiert. Wenn nicht, lässt sich die Schuld auf die Frau schieben und die frühere Praxis, Männer zu bevorzugen, manifestiert sich. Gleichzeitig könne die Organisation sich selbst als egalitär und progressiv inszenieren, erklärte sie gegenüber Psychology Today. Ex-Yahoo-Chefin Marissa Mayer zum Beispiel wird häufig als Opfer der „gläsernen Klippe“ beschrieben. Als sechste CEO in fünf Jahren übernahm sie 2012 einen unterdurchschnittlich abschneidenden Konzern, den sie wieder konkurrenzfähig machen sollte. Im Wettbewerb mit Google und Facebook scheiterte sie damit und trat 2017 zurück. Kritiker schrieben dies nicht den komplexen Umständen, sondern ihren Bemühungen zu. Yahoo wurde übernommen, und ein Mann nahm erneut die Position des CEO ein. Auch Theresa May ist ein Beispiel für die Tücken der „gläsernen Klippe“. Nachdem der britische Premierminister David Cameron das Brexit-Referendum initiiert hatte, trat er nach dem negativen Ergebnis zurück. Obwohl sie sich für den Verbleib in der EU eingesetzt hatte, sah May, mitunter auch in Ermangelung engagierter (männlicher) Gegenkandidaten, die Möglichkeit, die Kontrolle zu übernehmen. Zwei Verhandlungsjahre und etliche Misstrauensvoten später trat die zweite weibliche britische Premierministerin gescheitert zurück. Das Amt übernahm Boris Johnson. Doch die Causa Brexit ist bekannt komplex und bis heute nicht sauber gelöst, ergo konnte May eigentlich nur verlieren, wie Analysten resümierten. Im Fall der Kritik gegenüber den Aussagen der Direktorin für öffentliche Gesundheit sollte also nicht vergessen werden, wer die letzte Verantwortung innehat. Um dem generellen Problem der „gläsernen Klippe“ entgegenzuwirken, müsse man für diese Bewusstsein schaffen, so Psychologin Clara Kulich gegenüber der US-Nachrichtenplattform PBS. In weiterer Folge müssen vermehrt Frauen in Führungspositionen eingesetzt werden. Kulich: „Frauen dürfen nicht die Ausnahme zur Regel bleiben.“
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